Das OLG Hamm hat klargestellt, dass eine umfangreiche Abmahntätigkeit, die sich derart verselbstständigt hat, dass sie in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu der eigentlichen gewerblichen Tätigkeit des Abmahnenden steht, rechtsmissbräuchlich sein kann.
In dem Streitfall hatte eine Konsumartikelhändlerin, die u.a. Briefkästen im Zwischenhandel vertreibt, gegen einen Hersteller von Briefkästen eine einstweilige Verfügung erwirkt, die ihm den Vertrieb von Briefkästen mit den wettbewerbswidrig verwandten Produktkennzeichnungen „umweltfreundlich produziert“ und „geprüfte Qualität“ untersagt. Einen Tag nach der mündlichen Verhandlung führte die Händlerin sog. „Marktsichtungen“ durch, um weitere Verkäufer der Briefkästen zu ermitteln, die diese ebenfalls mit den wettbewerbswidrigen Produktkennzeichnungen vertrieben.
200 Abmahnungen in kurzer Zeit
Sie machte ca. 50 Unternehmen ausfindig und beauftragte den für sie bereits tätigen Anwalt, auch diese Unternehmen abzumahnen. Nach Erhalt eines Vorschusses begann der Anwalt mit dem Versand der Abmahnungen. Binnen weniger Tage versandte er an insgesamt 43 Händler Abmahnungen, erst danach gingen erste Unterwerfungserklärungen der abgemahnten Händler ein. Innerhalb der ersten sechs Wochen wurden insgesamt 71 Abmahnungen ausgesprochen, zwischenzeitlich ist ihre Zahl auf über 200 gestiegen. Eine der Abmahnungen erhielt eine Handelsgesellschaft aus Köln, die sich zur Wehr setze.
Ziel der Abmahnungen: Ersatz der Kosten
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm ist nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb das Verfolgen eines wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruchs rechtsmissbräuchlich, wenn es unter Berücksichtigung der gesamten Umstände vorwiegend dazu dient, gegen den Zuwiderhandelnden einen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen oder Kosten der Rechtsverfolgung entstehen zu lassen. Hiervon sei im vorliegenden Verfahren auszugehen. Die umfangreiche Abmahntätigkeit der Verfügungsklägerin habe in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrer eigentlichen gewerblichen Tätigkeit gestanden.
Anwalts- und Gerichtskosten von über 250.000 Euro
Beim Versand der ersten 43 Abmahnungen, u.a. auch an die verfügungsbeklagte Handelsgesellschaft aus Köln, sei die Klägerin ein erhebliches Kostenrisiko eingegangen. So fielen bereits für die 43 Abmahnungen Anwaltskosten von über 42.000 Euro an. Berücksichtige man zudem, dass ein nicht unerheblicher Teil der eingeleiteten Abmahnvorgänge in gerichtliche Auseinandersetzungen münde, erhöhe sich das Kostenrisiko. Insgesamt entstünden Anwalts- und Gerichtskosten von über 250.000 Euro, wenn ein Drittel der Abmahnvorgänge in der Hauptsache über eine gerichtliche Instanz und ein weiteres Drittel über zwei gerichtliche Instanzen auszufechten sei, was bereits eine für die Verfügungsklägerin günstige, moderate Entwicklung beschreibe.
Kein Verhältnis mehr zur wirtschaftlichen Betätigung
Dieses Kostenrisiko stehe in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu der eigentlichen wirtschaftlichen Betätigung. Nur beim Verkauf von Briefkästen und ähnlichen Produkten trete die Klägerin in Konkurrenz zur Handelsgesellschaft. Ordne man diesem Marktsegment die dem OLG Hamm bekannt gegebenen Werte zum gesamten Jahresüberschuss der Klägerin aus 2013 (ca. 5.500 Euro) und zu ihrem gesamten Eigenkapital aus 2013 (ca. 300.000 Euro) zu, bestehe kein kaufmännisch vernünftiges Verhältnis zwischen Gewinn und Eigenkapital und der zu beurteilenden Abmahntätigkeit mehr. Die mit den Abmahnkosten zehrten das Eigenkapital nahezu vollständig auf. Ein derartig hohes Kostenrisiko gehe ein vernünftig handelnder Kaufmann nicht ein.
(OLG Hamm, PM vom 20.11.2015 / Viola C. Didier)