Die Inhalte des Koalitionsvertrags zur unternehmerischen Mitbestimmung lassen erhebliche Veränderungen erwarten. Diese Veränderungen werden sich insbesondere auf deutsche inhabergeführte Unternehmen auswirken und lösen bereits jetzt erheblichen Handlungsbedarf aus. Aufgrund von Gesetzesinitiativen, Forderungen und Äußerungen der Vergangenheit kann bereits erahnt werden, welchen Umfang die im Koalitionsvertrag enthaltenen Absichtserklärungen der Ampelkoalition mit Blick auf die unternehmerische Mitbestimmung annehmen werden. Neben der häufig geforderten Absenkung der maßgeblichen Schwellenwerte der Mitbestimmungsgesetze wurde in der Vergangenheit aus den Kreisen der Koalitionsparteien SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhebliche Kritik betreffend sogenannte „Vermeidungsgestaltungen“ laut. In Kritik standen immer wieder Gestaltungsformen im Zusammenhang mit der Drittelbeteiligungslücke, dem Einsatz von Auslandskapitalgesellschaften, der Rechtsform der Stiftung sowie der Societas Europaea („SE“) und deren Einfriereffekt.
Schließung der Drittelbeteiligungslücke
Soweit Unternehmen mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigen, ist der Aufsichtsrat gemäß dem Mitbestimmungsgesetz paritätisch zu besetzen. Im Anwendungsbereich des Drittelbeteiligungsgesetzes müssen Kapitalgesellschaftsgruppen dagegen bereits ab 500 Arbeitnehmern einen Aufsichtsrat bilden, der mit einem Drittel durch Arbeitnehmer zu besetzen ist. Für die Berechnung der maßgeblichen Arbeitnehmerzahlen enthält das Mitbestimmungsgesetz spezielle Normen zur Zurechnung von Arbeitnehmern in Konzernunternehmen, die im Drittelbeteiligungsgesetz nicht enthalten sind (sog. Drittelbeteiligungslücke). Eine Zurechnung der Arbeitnehmer von Konzernunternehmen erfolgt im Anwendungsbereich des Drittelbeteiligungsgesetzes derzeit nur bei Vorliegen eines Beherrschungsvertrags zwischen Tochtergesellschaften und der Konzernmutter. Insbesondere die bisher nur im Mitbestimmungsgesetz geregelte weitreichendere Konzernzurechnung will die neue Koalition entsprechend der ausdrücklichen Zielsetzung des Koalitionsvertrags auch auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen. Dann müssen Kapitalgesellschaftsgruppen bereits ab 500 Arbeitnehmern einen Aufsichtsrat bilden, der mit einem Drittel durch Arbeitnehmer zu besetzen ist, sofern die Konzernmutter, wie üblich, mindestens eine Mehrheitsbeteiligung an den Tochtergesellschaften hält. Ein Beherrschungsvertrag wird dann für eine Drittelbeteiligung nicht mehr erforderlich sein. Darüber hinaus existiert ein in der 19. Wahlperiode noch abgelehnter Antrag der Koalitionspartei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag, womit gefordert wurde, die Zurechnungsnorm über Kombinationen aus Kapitalgesellschaften und Kommanditgesellschaften (Kapitalgesellschaft und Co. KG) aus dem Mitbestimmungsgesetz lückenlos in die Unternehmensmitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz einzubeziehen (BT-Drucks. 19/27828). Entsprechende Forderungen wurden auch immer wieder aus SPD-nahen Kreisen laut. Da es sich beim Drittelbeteiligungsgesetz um ein sogenanntes Einspruchsgesetz handelt, bedürfte eine derartige Änderung auch keiner Zustimmung durch den Bundesrat. Selbst eine Mehrheit im Bundesrat könnte also die Einführung der Zurechnungsnormen auch auf Ebene des Drittelbeteiligungsgesetzes nicht effektiv verhindern.
Erstreckung auf Auslandskapitalgesellschaften und Stiftungen
Der Einsatz von Auslandskapitalgesellschaften durch deutsche Unternehmen wird zwar im Koalitionsvertrag nicht ausdrücklich erwähnt, trifft aber ebenfalls vielfach als „Vermeidungsgestaltung“ auf große Kritik. Insoweit existiert sogar bereits ein entsprechender Gesetzesentwurf der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Juni 2021 (I.M.U. Mitbestimmungsreport Nr. 65, 06.2021), wonach ausländische Rechtsformen, die mit einer deutschen Aktiengesellschaft, Kommanditgesellschaft auf Aktien oder Gesellschaft mit beschränkter Haftung gleichwertig sind, in den Anwendungsbereich der deutschen Mitbestimmungsgesetze einbezogen werden sollen. Die Erstreckung der Mitbestimmung soll nach dem Entwurf der Hans-Böckler-Stiftung sowohl auf Ebene des Mitbestimmungsgesetzes als auch auf Ebene des Drittelbeteiligungsgesetzes erfolgen. Auch die bekannten Zurechnungsnormen sieht der Gesetzesentwurf vor. Auch der im Koalitionsvertrag nicht ausdrücklich erwähnte Einsatz einer Stiftung wird von der Hans-Böckler-Stiftung kritisiert. Beispielhalft genannt werden in diesem Zusammenhang regelmäßig Unternehmen wie Aldi, Lidl oder die Würth-Gruppe, welche aufgrund Ihrer Rechtsform als Stiftung trotz entsprechend hoher Arbeitnehmerzahlen nicht über eine Unternehmensmitbestimmung verfügen. Der bereits genannte Antrag der Koalitionspartei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag enthält ebenfalls die Forderung, Stiftungen mit Geschäftsbetrieb – gemeint sind Stiftungen, die Erwerbszwecke verfolgen – in den Geltungsbereich der Unternehmensmitbestimmung einzubeziehen, wenn sie eine entsprechende Beschäftigtenzahl aufweisen. Erfasst werden soll die Stiftung sowie die Stiftung & Co. KG.
Die Societas Europaea und der Einfriereffekt
Die SE als „europäische Aktiengesellschaft“ hat sich in der Vergangenheit hoher Beliebtheit auch bei deutschen Unternehmen erfreut. Neben dem Image als Global Player, der Multinationalität durch ein europaweit einheitliches Erscheinungsbild, der möglichen Kapitalbeschaffung durch Börsenzugang, der Mobilität innerhalb Europas und der einheitlichen Konzernstrukturen wird die Rechtsform auch aus steuerrechtlichen und mitbestimmungsrechtlichen Erwägungen gerne in Betracht gezogen. Allerdings trifft auch die SE mit Blick auf die Unternehmensmitbestimmung häufig auf den Vorwurf einer „Umgehungsgestaltung“. Das große Plus der SE liegt in der Möglichkeit, die Mitbestimmung vorrangig zwischen der Leitung und den Arbeitnehmern zu verhandeln. Erst wenn dies nicht erfolgt, gilt eine gesetzliche Auffanglösung. Der unternehmensmitbestimmungsrechtliche Status der SE entspricht dann gemäß der europarechtlichen Vorgabe der zugrundeliegenden SE-Richtlinie 2001/86/EG dem unternehmensmitbestimmungsrechtlichen Status ihrer Gründungsgesellschaften. Ein Anwachsen der Arbeitnehmerzahlen nach der Gründung der SE soll gemäß dem der SE-Richtlinie zugrundeliegenden Konsens der Mitgliedstaaten gerade keinen Einfluss auf den unternehmensmitbestimmungsrechtlichen Status in der SE mehr haben. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich dabei nach nationalem Recht grundsätzlich um einen mitbestimmungsrechtlich relevanten Sachverhalt handelt. Rechtsprechung und juristische Literatur bezeichnen diese europäische Regelung auch als „Einfriereffekt“, da der zum Zeitpunkt des Wechsels zur SE geltende Mitbestimmungsstatus der Gründungsgesellschaften für die Zukunft quasi „eingefroren“ wird und somit für die Zukunft unverändert bleibt. Eben dieser „Einfriereffekt“ der SE wird teilweise jedoch als „Vermeidungsgestaltung“ kritisiert und im Koalitionsvertrag ausdrücklich ins Visier künftiger Mitbestimmungsstärkung genommen. Aufgrund des diesem Einfriereffekt zugrundeliegenden europarechtlichen Gleichgewichts erscheint eine Änderung jedoch nur auf europarechtlicher Ebene möglich und bedürfte eines entsprechenden und derzeit nicht ersichtlichen Konsens der EU-Mitgliedstaaten. Fraglich ist insoweit auch, ob sich die geplante Mitbestimmungsstärkung auch auf bereits bestehende Unternehmen in der Rechtsform einer SE auswirken wird, oder ob es eine Art Bestandsschutz für bereits bestehende Unternehmen dieser Rechtsform geben muss.
Ausblick
Die neue Koalition schafft mit diesen Zielen der Mitbestimmungsstärkung akuten Handlungsbedarf für Unternehmen. Da die „Vermeidungsgestaltungen“ der unternehmerischen Mitbestimmung von der neuen Bundesregierung viel bespielt sind, ist betroffenen Unternehmen ein schnelles Handeln anzuraten. Die Inhalte des Koalitionsvertrages zeigen deutlich, dass es in der 20. Wahlperiode höchstwahrscheinlich zu einer Reform des Rechts der deutschen Unternehmensmitbestimmung kommen wird, die sich auch jeder Ebene auswirken wird. Aufgrund des eindeutigen europarechtlichen Grundsteins und der fehlenden nationalen Regelungskompetenz erscheint eine Verschärfung der Mitbestimmung auf Ebene der SE allein durch den deutschen Gesetzgeber jedoch schwer vorstellbar. Hier wird ein Rechtsänderungsakt auf europäischer Ebene erforderlich werden, der einen gemeinsamen Konsens der EU-Mitgliedstaaten bedarf. Die Umsetzung der gesetzten Ziele wird daher mehr Zeit als die anstehende Legislaturperiode in Anspruch nehmen. Die Schließung der Drittelbeteiligungslücke sowie die Erstreckung der Mitbestimmung auf Auslandsgesellschaften ist dagegen schon bald zu erwarten. Die SE bleibt also weiterhin eine probate Rechtsform. Neben den zu erwartenden fehlenden Mehrheiten zur Änderung der Mitbestimmungsregelungen bei der SE auf europäischer Ebene, sprechen auch die weiteren Vorzüge dieser Rechtsform, insbesondere aus Sicht des Steuerrechts und der Governance weiterhin für die SE.