I. Einstiegstest zur Vermeidung missbräuchlicher Gestaltungen
Die grundsätzlich steuerbegünstigte Übertragung von Unternehmensvermögen wird durch den in § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG geregelten Einstiegstest (90%-Test) eingeschränkt. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des BVerfG eingeführt. § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG enthält nach seinem Sinn und Zweck einen speziellen Missbrauchstatbestand. Demgemäß soll durch den Einstiegstest derartiges begünstigungsfähiges Vermögen von der Verschonung ausgenommen werden, welches (nahezu) ausschließlich aus Verwaltungsvermögen besteht (sog. Cash-GmbH). Andernfalls könnten mittels einer geringfügigen land- und forstwirtschaftlichen, originär gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit große Werte an Verwaltungsvermögen übertragen werden, für die eine Teilverschonung wie z.B. für Finanzmittel i.H.v. 15% des gemeinen Werts des Betriebs beansprucht werden kann.
II. Wirtschaftlich nicht nachvollziehbare Ergebnisse
Auch wenn die Intention des Gesetzgebers nachvollziehbar ist, schließt der Einstiegstest im Ergebnis jedoch eine Vielzahl von Betriebsvermögensübertragungen von jeglicher Verschonung aus, obwohl überhaupt kein missbräuchlicher Sachverhalt gegeben ist. Demzufolge ist es vollkommen unverständlich, wieso die Schuldenverrechnung ebenfalls gänzlich ausgeschlossen wird. Dadurch sind Fälle denkbar, in denen zwar nach Schuldenverrechnung überhaupt kein Verwaltungsvermögen vorhanden ist, jedoch durch den Einstiegstest jede Verschonungsmöglichkeit genommen wird.
Neben Familienunternehmen, die sich im Wesentlichen über Gesellschafterdarlehen finanzieren, sind vor allem Handels- und Dienstleistungsunternehmen von der Regelung des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG betroffen. Bereits durch ihre Geschäftstätigkeit weisen diese Unternehmen einen hohen Bestand an Forderungen aus Lieferung und Leistung oder liquiden Mitteln (Finanzmittel) sowie einen hohen Bestand von Schulden aus, der jedoch nicht mit dem hohen Forderungs-/Cash-Bestand saldiert werden darf. Nachdem der Zufluss an Liquidität oft nicht beeinflusst werden kann, stellt sich die Höhe des Finanzmittelbestands zum jeweiligen erbschaft- und schenkungsteuerlichen Bewertungsstichtag als zufällige Momentaufnahme dar. Durch das Alles-oder-Nichts-Prinzip führt die Regelung in der Praxis somit zu willkürlichen, wirtschaftlich nicht nachvollziehbaren Ergebnissen, die sich auch nicht durch die intendierte Missbrauchsbekämpfung rechtfertigen lassen.
III. Entscheidung des FG Münster vom 24.11.2021
Erstmals Zweifel in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der gesetzlichen Regelung des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG hat das FG Münster in seinem rechtskräftigen Beschluss vom 03.06.2019 (3 V 3697/18) zur Aussetzung der Vollziehung geäußert. Nun hat das FG Münster auch mit dem am 17.01.2022 veröffentlichten Urteil (3 K 2174/19 Erb) im Hauptsachverfahren entschieden. Danach ist der Einstiegstest nach § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG bei der Übertragung von Kapitalgesellschaftsanteilen im Wege der teleologischen Reduktion einschränkend dahin gehend auszulegen, dass die Regelung dann nicht anzuwenden ist, sofern die betreffende Kapitalgesellschaft ihrem Hauptzweck nach einer originär gewerblichen Tätigkeit i.S.d. § 13 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG nachgeht.
Im Streitfall wurden Anteile an einer originär gewerblich tätigen GmbH übertragen. Der Substanzwert der Gesellschaft wurde auf rd. 556.000 € festgestellt. Zudem wurden Finanzmittel – hauptsächlich bestehend aus Forderungen aus Lieferung und Leistung – auf 2,5 Mio. €, Schulden auf. 3,1 Mio. € und Verwaltungsvermögen auf 0,00 € festgestellt. Durch die starre Bruttobetrachtung führt der Einstiegstest zu einer Verwaltungsvermögensquote von 473% und dem absurden Resultat, dass trotz eines festgestellten Verwaltungsvermögens von 0,00 € und einem Unternehmenswert von mehr als 500.000 € die 90%-Grenze des Verwaltungsvermögens überschritten wird. Obwohl in dem übertragenen Betriebsvermögen rein rechnerisch nach Schuldenverrechnung (Finanzmittel 2,5 Mio. € abzüglich Schulden 3,1 Mio. €) die Netto-Finanzmittel bei 0,00 € gelegen hätten und auch sonst kein Verwaltungsvermögen vorlag, wäre – wie vom Finanzamt im Schenkungsteuerbescheid geschehen – nach dem Gesetzeswortlaut jegliche Begünstigung zu versagen. Nachdem der Hauptzweck der Tätigkeit der GmbH im vorliegenden Fall ein originär gewerblicher ist, hat der Einstiegstest durch die teleologische Reduktion zu unterbleiben.
1. Teleologische Reduktion des Einstiegstests
Zum Erfordernis der teleologischen Reduktion des Einstiegstests nach § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG führt das FG Münster in seinem Urteil aus, dass gemessen am Gesetzeszweck (Missbrauchsvermeidung) die Anwendung des Einstiegstests streng nach dem Wortlaut zu einem sinnwidrigen Ergebniss führe, wenn der Einstiegstest bezogen auf begünstigungsfähiges Vermögen (§ 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG) auch in derartigen Fällen angewendet wird, in denen die Kapitalgesellschaft ihrem Hauptzweck nach einer originär gewerblichen Tätigkeit nachgeht. Das FG Münster nennt in diesem Zusammenhang insbesondere Handels- und Dienstleistungsunternehmen, die aus ihrer gewöhnlichen Geschäftstätigkeit typischerweise einen vergleichsweise hohen Bestand an Finanzmitteln ausweisen. In diesen Fällen besteht die vom Gesetzgeber gesehene Missbrauchsgefahr – Übertragung von Anteilen an Gesellschaften, deren Vermögen ganz überwiegend aus Verwaltungsvermögen besteht – jedoch gerade nicht.
2. Hauptzweckbetrachtung
Das FG Münster äußert sich auch zu dem Umstand, dass der sog. Hauptzwecktest im Regierungsentwurf zunächst noch vorgesehen war, letztlich aber gestrichen wurde. Aus der Streichung sei nicht zu folgern, dass die teleologische Reduktion dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen würde. Denn Gegenstand der Betrachtung für Zwecke der teleologischen Reduktion sei nicht, wie noch im Regierungsentwurf enthalten, das einzelne Wirtschaftsgut, sondern die Tätigkeit der Kapitalgesellschaft als Ganzes. Diese Betrachtung sei eine typisierende, übergreifende Betrachtung. Sie beziehe sich ausschließlich auf die Frage, ob eine Begünstigung im Ergebnis auszuschließen ist. Die Gesetzgeberische Konzeption bliebe dadurch unberührt. Eine Prüfung des konkreten Einzelfalls auf das etwaige Vorliegen einer missbräuchlichen Gestaltung wird hierdurch nicht eingeführt.
3. Teleologische Reduktion durch den allgemeinen Gleichheitssatz geboten
Zudem sei die teleologische Reduktion auch durch den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG geboten. § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG sei bezogen auf die Übertragung von Anteilen an Kapitalgesellschaften dann mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, wenn bei der Auslegung der Vorschrift nicht danach unterschieden wird, welchem Hauptzweck die Tätigkeit der betreffenden Kapitalgesellschaft dient. Durch die Verschonung betrieblichen Vermögens soll die vorhandene Beschäftigung in den übergehenden Betrieben gesichert und die ausgewogene deutsche Unternehmenslandschaft mit ihren gewachsenen Unternehmensstrukturen bewahrt werden. Vor diesem Hintergrund fehle es an einem vernünftigen und einleuchtenden Grund, für übertragene Anteile an Kapitalgesellschaften im Wege des sog. Einstiegstests jegliche Vergünstigung zu versagen, wenn die Tätigkeit der betreffenden Kapitalgesellschaften nach ihrem Hauptzweck land- und forstwirtschaftlich, originär gewerblich oder freiberuflich ist. Schließlich werden dadurch die Begünstigungen im Ergebnis gerade für diejenigen versagt, deren Förderung sie dienen sollten.
IV. Folgen für die Praxis
Das Urteil des FG Münster ist in der Praxis zu begrüßen. Ohne die teleologische Reduktion führt der Einstiegstest zu willkürlichen, wirtschaftlich nicht nachvollziehbaren Ergebnissen. Unternehmen sehen sich gezwungen, entgegen ihrem gewachsenen und üblichen Geschäftsmodell Ausweichgestaltungen oder betriebswirtschaftlich wenig sinnvolle bzw. nachteilige Vorgehensweisen zu wählen, um einen positiven Einstiegstest zu erreichen.
Das FG Münster hat die Revision zum BFH zugelassen. Das Verfahren ist dort unter dem Az. II R 49/21 anhängig. Bis zur Entscheidung des BFH ist davon auszugehen, dass für ähnlich gelagerte Fälle eine Aussetzung der Vollziehung zu gewähren ist und dem Ruhen von Einsprüchen zugestimmt wird.