Für die Bewertung ist es erforderlich, die gesetzlichen Vorgaben des Mindestlohngesetzes (MiLoG) heranzuziehen und sich zugleich die Funktion der Mindestlohnkommission (MLK) vor Augen zu führen, deren Empfehlungen die Grundlage für die Anpassungsverordnung der Bundesregierung bilden.
Der Prozess der Mindestlohnfestsetzung
In Deutschland schlägt die MLK der Bundesregierung eine Anpassung des Mindestlohns (§ 1 Abs. 2 Satz 2 iVm. § 4 MiLoG) durch Beschluss vor. Der Beschluss der MLK bleibt zunächst ohne Außenwirkung. Die Bundesregierung kann die vorgeschlagene Anpassung durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates verbindlich machen (§ 11 Abs. 1 MiLoG). Eine Anpassungspflicht besteht nicht. Der Vorschlag kann jedoch nur unverändert angenommen werden. Entscheidet sich die Bundesregierung gegen eine Umsetzung des Vorschlags, bleibt es bei der Höhe des derzeitigen Mindestlohns.
Die Kriterien, an denen sich die MLK bei ihrer Entscheidung zu orientieren hat, gibt § 9 Abs. 2 MiLoG vor. Danach prüft die MLK im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist,
– zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen,
– faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie
– Beschäftigung nicht zu gefährden.
Dabei orientiert sie sich „nachlaufend an der Tarifentwicklung“. In der Gesetzesbegründung wird diese Vorgabe als „wichtiger Richtwert“ ausdrücklich hervorgehoben (BT-Ds. 18/1558, S. 38).
Die Änderung der Geschäftsordnung im Jahr 2025
Am 21.01.2025 änderte die MLK ihre Geschäftsordnung. In § 2 Abs. 1 a) GO-MLK finden sich seitdem die folgenden Kriterien zur Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns: „Die Mindestlohnkommission orientiert sich zur Festsetzung des Mindestlohns nach § 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG im Rahmen einer Gesamtabwägung nachlaufend an der Tarifentwicklung sowie am Referenzwert von 60% des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten nach Art. 5 Abs. 4 sowie an den Kriterien nach Art. 5 Abs. 2 der EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (EU-Mindestlohnrichtlinie), um die in § 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG und Art. 5 Abs. 1 der EU-Mindestlohnrichtlinie genannten Ziele zu erreichen.“
Das MiLoG sieht eine solche Aufnahme von Kriterien in der GO aber nicht vor. Aus dem Wortlaut von § 10 Abs. 4 Satz 3 MiLoG kann man erkennen, dass in der GO der MLK nur „Verfahrensregelungen“ – also interne Abläufe – geregelt werden dürfen. Regelungen, die den Inhalt des Beschlusses (§ 9 MiLoG) betreffen, darf sie gerade nicht bestimmen. Dafür spricht auch die Systematik des MiLoG, die den Beschluss der MLK und das Verfahren in getrennten Normen regelt (§ 9 MiLoG und § 10 MiLoG).
Damit hat die MLK ihre Befugnisse überschritten. In der Literatur wird vertreten, dass der Kommissionsvorschlag daher bereits kompetenzwidrig und die auf ihm beruhende Rechtsverordnung entsprechend rechtswidrig sei. Allerdings kommt der GO der MLK keine Außenwirkung zu. Demzufolge muss entscheidend sein, ob die Kriterien aus § 9 Abs. 2 MiLoG beachtet werden, es sich dabei also nicht um eine formelle Problematik, sondern eine materiell-rechtliche Problematik handelt.
Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass die MLK in ihrem Fünften Beschluss vom 27.06.2025 vom von den in § 9 Abs. 2 MiLoG genannten Kriterien abgewichen ist.
Zwar muss es der Kommission unbenommen sein, die in § 9 Abs. 2 MiLoG genannten unbestimmten Rechtsbegriffe („angemessener Mindestschutz“, „faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen“, „Beschäftigungssicherung“) zu konkretisieren. Um den gesetzlichen Auftrag zur Anpassung des Mindestlohns umsetzen zu können, muss sie diese Kriterien methodisch greifbar machen. Es ist daher sachgerecht und transparent, entsprechende Berechnungsmethoden – etwa den Bezug auf den Tarifindex des Statistischen Bundesamts – in der GO festzuhalten. Solche methodischen Festlegungen sind erforderlich, um den Mindestlohn nachvollziehbar berechnen zu können.
Fraglich ist jedoch, wie weit dieser Spielraum ist. Die Wissenschaftlichen Dienste gehen davon aus, dass die MLK im Binnenverhältnis eigene Vorstellungen entwickeln und umsetzen kann, wie sie ihren Aufgaben nach dem Mindestlohngesetz am besten gerecht wird (WD 6 – 3000 – 042/16, S. 7). Die Grenze zulässiger Konkretisierung ist jedoch dort erreicht, wo die Kommission zusätzliche, gesetzlich nicht vorgesehene Entscheidungskriterien etabliert. Eine solche Vorgehensweise wird nicht dem Wesentlichkeitsgrundsatz gerecht. Das MiLoG sieht ausdrücklich vor, dass in der GO lediglich „übrige Verfahrensfragen“ geregelt werden sollen. Das MiLoG sieht nicht vor, dass zentrale Kriterien für die Festsetzung oder Überprüfung der Mindestlohnhöhe in einer GO geregelt werden können. Wenn der Gesetzgeber eine Bindung an bestimmte Referenzwerte gewollt hätte, hätte es einer Änderung des MiLoG durch den Gesetzgeber bedurft.
Die MLK hat den unionsrechtlich lediglich als Orientierungshilfe vorgesehenen Wert nicht nur übernommen, sondern durch die zusätzliche Einschränkung auf den Bruttomedianlohn von Vollzeitbeschäftigten zu einem verbindlich wirkenden Berechnungsparameter verfestigt. Dies geht über die unionsrechtliche Vorgabe hinaus.
Die MiLoRL sah vor allem die Schaffung eines Rahmens für die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen vor. Nach Art. 5 Abs. 1 MiLoRL sollen die Mitgliedsstaaten mit gesetzlichem Mindestlohn die erforderlichen Verfahren für die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne schaffen. Dabei werden gem. Art. 5 Abs. 2 MiLoRL bestimmte Kriterien zugrunde gelegt, die mindestens die folgenden Aspekte umfassen: a) die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten; b) das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung; c) die Wachstumsrate der Löhne; d) langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen.
Darüber hinaus sah die MiLoRL nach Art. 5 Abs. 4 vor, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde legen. Zu diesem Zweck können sie auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte wie 60% des Bruttomedianlohns und 50% des Bruttodurchschnittslohns und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden, verwenden.
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass der EuGH in der Rechtssache C-19/23 die Kriterien nach Art. 5 Abs. 2 MiLoRL durch sein Urteil „gekippt“ hat: Der EuGH hat Art. 5 Abs. 2 MiLoRL für nichtig erklärt, weil diese Vorgaben unmittelbar in die Festlegung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union eingreife und sich demnach über den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss in Bezug auf „Arbeitsentgelt“ hinwegsetze (Rn. 101).
Bei den in Art. 5 Abs. 4 MiLoRL genannten Referenzwerten von 60 % des Bruttomedianlohns handele es sich nach dem EuGH jedoch um reine Kontrollparameter, die den Mitgliedstaaten freistehen. Es würden somit keine zwingenden Bestandteile in Bezug auf die Höhe der gesetzlichen Mindestlöhne vorgeschrieben und einzelne oder alle Bestandteile dieser Löhne würden nicht harmonisiert (Rn. 99).
Fraglich ist daher, wie die Rechtsverordnung der Bundesregierung zu bewerten ist, die den Vorschlag der MLK mit der Fünften Mindestlohnanpassungsverordnung – MiLoV5 (BGBl. 2025 I Nr. 268 vom 07.11.2025) verbindlich gemacht hat.
Auswirkungen auf die Rechtsverordnung
Formelle Fehler sind nicht ersichtlich, sofern man – wie hier – davon ausgeht, dass die Prüfung der Kriterien aus § 9 Abs. 2 Satz 2 MiLoG eine materiell-rechtliche Frage ist.
Die Gesetzesbegründung des § 11 MiLoG führt aus, dass die Bundesregierung die Verordnung auf den Festsetzungsbeschluss der sachverständigen MLK stützen kann, wenn ihr die Begründung des Beschlusses im Hinblick auf die in § 9 Abs. 2 MiLoG genannten Kriterien tragfähig erscheint (BT-Ds. 18/1558, S. 39). Der Beurteilungsspielraum der Bundesregierung ist daher als weit einzustufen.
Der Beurteilungsspielraum der Bundesregierung ist dann als überschritten anzusehen, wenn die getroffene Entscheidung den Rahmen den Zweck des MiLoG überschreitet und ungeeignet ist, diesen Zweck zu erreichen, oder unverhältnismäßig ist (BVerfG v. 08.06.1977 – 2 BvR 499/74, 1042/75, BeckRS 1977, 105962, Rn. 56).
Der Rechtsverordnung liegen Kriterien zugrunde, die das MiLoG nicht kennt. Gleichwohl bleibt die Entscheidung auf den gesetzlichen Zweck ausgerichtet: Der Zweck des Mindestlohns besteht darin, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen sowie faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Der Mindestlohn soll einem Verdrängungswettbewerb über Lohnkosten entgegenwirken. Außerdem soll der Erhalt von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung berücksichtigt werden (BT-Ds. 18/1558, S. 38). Die Verordnungsbegründung selbst ist kein Kontrollgegenstand. Ihr kommt jedoch eine Indizfunktion zu, wenn sich erkennen lässt, dass die Begründung auf sachfremden Erwägungen beruht, die auf eine evidente objektive Unvertretbarkeit und Unverhältnismäßigkeit der Verordnung hinweisen können.
Auch wenn die Bundesregierung betont, dass die zweite Anpassungsstufe mit 60% des Medianlohns etwas stärker ausfällt als die an der Tarifentwicklung orientierten 58% der ersten Stufe, handelt es sich lediglich um geringfügige Abweichungen. Anhaltspunkte, dass dies zweckwidrig, ungeeignet oder unverhältnismäßig ist, sind nicht ersichtlich. Darüber hinaus hat der EuGH den Referenzwert von 60% gebilligt. Eine evident objektive Unvertretbarkeit dürfte daher nicht vorliegen. Die Entscheidung der Bundesregierung bewegt sich daher innerhalb des ihr eröffneten Beurteilungsspielraums. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die MLK mit Vertretern der Arbeitgeber- und Gewerkschaften besetzt ist und damit eine ausgewogene Interessenvertretung gewährleistet. Ihre Entscheidung beruht somit auf einem Verfahren, das strukturell darauf angelegt ist, sowohl die Belange der Wirtschaft als auch die Schutzinteressen der Beschäftigten angemessen einzubeziehen.

