Die Vorstellung, dass sich der Arbeitgeber in ihr Privatleben einmischen oder ihnen eine bestimmte Weltanschauung vorschreiben könnte, dürfte den meisten Beschäftigten befremdlich erscheinen. Kirchliche Beschäftigte sind daran gewöhnt: Etliche von ihnen haben in der Vergangenheit ihre Stelle verloren, weil sie sich beispielsweise für eine zweite Ehe oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft entschieden haben.
Kirchliches „Nebenarbeitsrecht“ seit EuGH-Urteilen im Fokus
Deutsche Arbeitsgerichte haben dem Gebaren der Kirchen regelmäßig ihren Segen erteilt – mit Verweis auf deren Selbstbestimmungsrecht. Wie weit dieses Recht reicht, hat der ehemalige Arbeitsrichter Peter Stein in einem Gutachten für das HSI erörtert. Die Grenzen sind demnach enger gesteckt, als es die Rechtsprechung hierzulande über Jahrzehnte vorgegeben hat: Das kirchliche „Nebenarbeitsrecht“ sei spätestens nach mehreren Urteilen des EuGH nicht mehr haltbar, schreibt Stein, der an einem der Verfahren vor dem EuGH als Anwalt beteiligt war. Vorgaben, die in die private Lebensführung eingreifen und auf eine Ungleichbehandlung von Beschäftigten hinauslaufen, seien allenfalls bei „verkündigungsnahen“ Tätigkeiten rechtmäßig.
„Plausibel ist, was die Kirche für plausibel hält“
Die Stellung der Kirchen im Staat sei im Grundgesetz in Artikeln geregelt, die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen wurden, erklärt der Jurist. Darin finde sich unter anderem ein „Recht der Glaubensgemeinschaften auf Selbstverwaltung innerhalb der Schranken des für alle geltenden Rechts“. Die Verfassung habe in erster Linie klarstellen wollen, dass für die Kirchen die gleichen Rechte wie für alle gelten. Das BVerfG habe den Artikel dagegen zu einer Schutznorm der Kirchen gegen den Staat umgedeutet und extrem ausgeweitet, insbesondere im Arbeitsrecht.
Stein hält das für wenig überzeugend: Ein bloßer Nachvollzug des Selbstverständnisses von Glaubensgemeinschaften habe mit eigenständiger Kontrolle durch die Rechtspflege nichts zu tun. Mit der Maxime „Plausibel ist, was die Kirche für plausibel hält“ hätten die Karlsruher Richter einen „kontrollimmunen Interpretationsprimat“ der Kirchen installiert und „die christliche Wertemoral in exzessivem Umfang gegenüber dem staatlichen Arbeitsrecht“ privilegiert. Vernachlässigt hätten sie dagegen die Grundrechte der Beschäftigten.
Überbetonung kirchlicher Sichtweisen ist ein Irrweg
Dass die „Überbetonung kirchlicher Sichtweisen“ ein Irrweg ist, hat dem Gutachten zufolge 2018 auch der EuGH bestätigt. Um für Klarstellungen im deutschen Recht zu sorgen und es in Einklang mit Unionsrecht zu bringen, empfiehlt der Autor Anpassungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Ob eine gerechtfertigte berufliche Anforderung vorliegt, dürfe sich nicht nach dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht bestimmen, sondern allein nach der Art der Tätigkeit. Zudem sollte der Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes auf kirchliche Einrichtungen ausgedehnt werden, wird doch über die kirchliche Mitarbeitervertretung neben den Interessen der Beschäftigten zugleich auch ein kirchliches Amt vertreten.