In seinen aktuellen Urteilen vom 20.11.2018 (1 AZR 189/17 und 1 AZR 12/17) hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass ein Arbeitgeber es – abhängig vom konkreten Einzelfall – dulden muss, dass Streikmaßnahmen auf dem von ihm angemieteten Betriebsgelände stattfinden. Selbst dann, wenn er das eigene Betriebsgelände kraft ausdrücklicher Beschilderung der Nutzung durch die Öffentlichkeit entzogen hat. Wir haben zum Hintergrund der Entscheidung sowie deren Folgen mit Dr. Bettina Scharff (Counsel, Allen & Overy) gesprochen.
DB: Frau Dr. Scharff, der 1. Senat des BAG hat sehr lange und ausführlich die Interessen beider Seiten – Gewerkschaft und Arbeitgeber – gegeneinander abgewogen. Was war letztlich im vorliegenden Fall das entscheidende Argument, der Gewerkschaft Recht zu geben?
Scharff: Dass der 1. Senat des BAG letzten Endes die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit in dem vorliegenden Fall höher bewertete als das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Hausrecht der Arbeitgeberin lag primär in den örtlichen Gegebenheiten begründet: Die klagende Arbeitgeberin betreibt ein Logistikzentrum in einem außerörtlichen Gewerbebetrieb. Zu dem Betriebsgelände gehört neben dem Betriebsgebäude ein ca. 28.000 qm großer Parkplatz, dessen Betreten Unbefugten kraft ausdrücklicher Beschilderung verboten ist. Nahezu alle Mitarbeiter kommen mit dem PKW zur Arbeit und nutzen den Betriebsparkplatz, um ihren PKW dort abzustellen. Der Eingang zum Betriebsgebäude, den sämtliche Mitarbeiter passieren müssen, befindet sich inmitten des Parkplatzes. Die streikführende Gewerkschaft argumentierte, sie müsse die Streikmaßnahmen zwingend direkt vor dem Eingang zum Betriebsgebäude durchführen, da sie andernfalls keine realistische Möglichkeit habe, mit den nicht-streikenden Mitarbeitern in Kontakt zu treten. Obwohl die Arbeitgeberseite diverse Alternativmöglichkeiten aufgezeigt hatte, die die Gewerkschaft an anderen Standorten auch so praktiziert, gab der 1. Senat der Gewerkschaft Recht und bewertete ihre Interessen in dem konkreten Fall höher als die Interessen der Arbeitgeberin. Zudem scheint es der 1. Senat für wesentlich zu halten, dass die Streikmaßnahmen vor dem Eingang zum Betriebsgebäude nur kurze Zeit andauerten.
DB: Die mediale Begleitung der Entscheidungen war am Tag der Verkündung sehr groß: kann und darf die Erfurter Entscheidung – vor allem ohne vorliegend er Gründe – bereits verallgemeinert werden? Müssen Arbeitgeber nun jederzeit mit Streikaufrufen rechnen, die sich im Ergebnis auf dem eigenen Betriebsgelände abspielen?
Scharff: Auf keinen Fall darf die Erfurter Entscheidung verallgemeinert werden. Bereits anhand der Pressemitteilung des BAG zu der Entscheidung sowie anhand der mündlichen Urteilsbegründung ist klar erkennbar, dass der für Arbeitskampffragen zuständige 1. Senat des BAG Gewerkschaften keinen Freibrief erteilt hat, stets das Betriebsgelände für Arbeitskampfmaßnahmen zu nutzen. Vielmehr werden wie so oft die Umstände des Einzelfalls entscheidend sein. Da die Erfurter Richter dem Recht der Gewerkschaft, mit den zur Arbeitsniederlegung aufgerufenen Mitarbeitern in Kontakt zu treten, ein hohes Gewicht beimessen, wird ein Recht zum Streik auf dem Betriebsgelände insbesondere dann nicht anzuerkennen sein, wenn eine Kontaktaufnahme mit den Mitarbeitern problemlos auch außerhalb des Betriebsgeländes stattfinden kann (z.B. wenn der Eingang zum Betriebsgebäude direkt an öffentliches Gelände angrenzt und die Gewerkschaft ihren Arbeitskampf dort durchführen kann).
DB: Welche Argumente stehen auf Arbeitgeberseite, die auch in Zukunft noch gelten und nicht so einfach unberücksichtigt werden dürfen? Inwiefern ist das Zeitmoment – sprich die Dauer von Arbeitskampfmaßnehmen – bei der Beurteilung ähnlicher Sachverhalte zu berücksichtigen?
Scharff: Nicht nur die Gewerkschaft, sondern auch der Arbeitgeber kann sich auf Grundrechte berufen. Auf Seiten des Arbeitgebers streitet insbesondere das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Hausrecht. Bereits in der sog. „Flashmob“-Entscheidung vom 22.09.2009 (1 AZR 972/08, DB 2009 S.
) hat der 1. Senat des BAG unmissverständlich klargestellt, dass das arbeitgeberseitige Hausrecht der koalitionsrechtlichen Betätigungsfreiheit nicht weichen muss. Wenngleich der 1. Senat diesen Grundsatz in seinen Entscheidungen vom 20. November 2018 wieder ein Stück weit revidiert hat, so sollte zumindest im Falle von Betriebsablaufstörungen oder bei konkreten Gefahren für Arbeitnehmer aufgrund des Orts des Streiks gelten, dass es ein Arbeitgeber nicht hinzunehmen hat, wenn der Streik auf seinem Betriebsgelände stattfindet. Wenn der 1. Senat in seiner Pressemitteilung hervorhebt, dass Arbeitgeber eine „kurzzeitige, situative Beeinträchtigung“ ihres Besitzes hinzunehmen haben, so folgt daraus in einem Umkehrschluss, dass sie gegenüber der streikführenden Gewerkschaft jedenfalls bei länger andauernden Arbeitskämpfen von ihrem Hausrecht Gebrauch machen dürfen. Schwierigkeiten wird es in der Praxis sicherlich bereiten, hier eine genaue zeitliche Grenze zu ziehen, ab wann nicht mehr von einer „kurzzeitigen, situativen Beeinträchtigung“, sondern von einer nicht mehr zu duldenden Besitzstörung auszugehen ist. Wünschenswert wäre es, dass der 1. Senat in den Urteilsgründen der beiden Entscheidungen hierzu klare Vorgaben macht.DB: Zurück zur den aktuellen Entscheidungen: können Sie auch wenn die Urteilsgründe noch nicht vorliegen eine Einschätzung zu den konkreten praktischen Folgen der Entscheidung abgeben? Was raten Sie insbesondere Unternehmen?
Scharff: Drohen Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände, so sollten sich die betroffenen Unternehmen stets die konkreten Umstände anschauen: Maßgebend werden ganz besonders – wie bereits erwähnt – die örtlichen Gegebenheiten sein. Kann die Gewerkschaft auch außerhalb des Betriebsgeländes Kontakt mit den zum Streik aufgerufenen Mitarbeitern aufnehmen, so spricht dieser Aspekt bereits erheblich gegen die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen auf dem Betriebsgelände. Selbst wenn eine Notwendigkeit besteht, das Betriebsgelände zu betreten, um mit den zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmern kommunizieren zu können, so muss ein Arbeitgeber das aber nicht zwingend hinnehmen. Vielmehr sollten die Unternehmen dann prüfen, welche Beeinträchtigungen für sie hierdurch entstehen oder ob der von der Gewerkschaft begehrte Ort des Streiks zu Gefahren für streikende oder nicht streikende Arbeitnehmer führt, denen gegenüber (auch im Arbeitskampf) eine Pflicht zur Fürsorge besteht. Anzunehmen ist insbesondere, dass Streiks in dem Betriebsgebäude selbst den Arbeitgeber stärker beeinträchtigen als in dem Bereich vor dem Eingang, so dass er diese nach wie vor nicht hinzunehmen haben wird. Auf Basis der konkreten Umstände des Einzelfalls sollten Unternehmen also die Erfolgsaussichten einer einstweiligen Verfügung oder eines Hauptsacheverfahrens mit dem Ziel der Unterlassung von Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände prüfen.
DB: Vielen Dank für das Interview, Frau Dr. Scharff!
Das Interview führte Claus Dettki, Redaktion DER BETRIEB