Umsetzung von EuGH-Rechtsprechung in Deutschland
Gerade die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in Deutsches Recht zeigt, wie Deutschland wirklich mit dem Loyalitätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 3 EUV umgeht. So hat der EuGH schon 2006 entschieden, dass EU-Gesellschaften der sog. Hinzurechnungsbesteuerung nach dem AStG entgehen, wenn sie ein Minimum an wirtschaftlicher Tätigkeit entfalten (EuGH vom 12.06.2006 – „Cadbury/Schweppes“ – IStR 2006 S. 670 m. Anm. Körner). Die Entscheidung zum Englischen Recht veranlasste die deutsche Finanzverwaltung unverzüglich, das Anwendungsschreiben vom 08.01.2007 (BStBl. I 2007 S. 99) herauszugeben und die entsprechende Regelung als „Motivtest“ in § 8 Abs. 2 AStG in der Fassung vom 20.12.2007 (BGBl. I 2007 S. 3150) einzuarbeiten. Seitdem war die EuGH-Rechtsprechung Deutsches Gesetz, auch wenn man sich über dessen Auslegung mit der Finanzverwaltung streitet, da der EuGH nur Briefkasten- und Strohmanngesellschaften, sowie bloße Durchleitungsgesellschaften nicht als ausreichend wirtschaftlich tätig ansieht (EuGH vom 26.07.2019 – „IV Luxemburg 1“, IStR 2019 S. 308). Große Bedeutung hat dies inzwischen, weil Deutschland durch Festlegung der Niedrigsteuerschwelle auf 25% (deutsche Kapitalgesellschaften bezahlen 15% KSt) und einen nicht mehr zeitgemäßen Aktivitätskatalog (Bärsch/Schneider, DB 2022 S. 81) deutsche Unternehmen immer häufiger dazu zwingt, ausreichende Aktivitäten ihrer EU- oder EFTA-Gesellschaften zu belegen.
Neuer Motivtest unterdrückt EuGH-Rechtsprechung
Das AStG ist jetzt durch das sog. ATAD-UmsG vom 25.06.2021 (BGBl. I 2021 S. 2035) neu gefasst worden. Aber auch die Neufassung verlangt Verrechnungspreise wie zwischen fremden Dritten. Dabei wird übergangen, dass der EuGH inzwischen mehrfach geurteilt hat, dass innerhalb des Binnenmarktes zwischen verbundenen Unternehmen vom Fremdvergleichspreis zugunsten von Konzernverrechnungspreisen abgewichen werden kann, soweit dies nicht nur zur Manipulation der daraus folgenden Steuer geschieht. Im ersten Fall unterstützte eine belgische Muttergesellschaft eine französische notleidende Tochter (EuGH vom 21.01.2010 – „SGI“, IStR 2010 S. 144 m. Anm. Schön, IStR 2011 S. 177). Der zweite Fall betraf § 1 AStG (EuGH vom 31.05.2018 – „Hornbach Baumarkt“, IStR 2018 S. 461 m. Anm. Utermark/Nagler/Schnittger/Mitschke; Schönfeld/Kahlenberg, IStR 2018 S. 498), in dem eine deutsche Muttergesellschaft ihre niederländischen Töchter beim Aufbau des jeweiligen Vertriebsmarkts unterstützte. Die neueste Entscheidung betrifft (nach Umsetzung der AOA-Grundsätze) eine rumänische Betriebsstätte, die dem italienischen Stammhaus (wie eine Tochter ihrer Mutter) Darlehen zur Überbrückung einer Liquiditätsenge gewährte (EuGH vom 08.10.2020 – „Impresa Pizzarotti“, IStR 2021 S. 103 m. Anm. Schulz-Trieglaff).
Nun muss man sehen, dass der Motivtest im Rahmen des neu gefassten § 8 Abs. 2 AStG praktisch nur verbundene Unternehmen im Europäischen Binnenmarkt erfasst. Eine Ausnahme dürfte nur gelten, wenn ein deutscher Gesellschafter aktiv wird, der nicht Unternehmen i.S.v. § 7 AStG ist. § 7 AStG umfasst inzwischen aber auch Verträge von EU-Gesellschaften mit verbundenen Unternehmen. Daher fragt man sich, warum das Gesetz, das jetzt in der großen Mehrzahl der Fälle verbundene Unternehmen betrifft, nicht auf die geänderte Rechtsprechung des EuGH hinweist. Das neue Gesetz enthält hier (zur Vermeidung eines Hinweises auf die „unerfreuliche“ EuGH-Rechtsprechung) einen Text, der nur für eine kleine Minderheit maßgeblich ist. Und obwohl § 1 AStG gerade geändert wurde, hat man diese EuGH-Rechtsprechung bewusst unterdrückt.
Als solche, das deutsche Gesetz ändernde EuGH-Entscheidungen noch neu waren, hat man über die Pflicht des Parlaments zur Einarbeitung in die nationale Regelung noch nachgedacht. Und ein führender BFH-Richter hat darauf hingewiesen, dass man diese Rechtsänderungen, die mit der Entscheidung ja unmittelbar wirken, bis dahin im Wege der Auslegung berücksichtigen müsse (Gosch, Ubg 2009 S. 73). Selbst dieser Hinweis nützt dann aber wenig, wenn (immer noch) ein Schreiben des BMF vorliegt (BMF vom 06.12.2018, BStBl. I 2018 S. 1305), das die Entscheidung wie ein einschränkendes Nichtanwendungsschreiben eng auslegt.
BVerfG stärkt Vorlagepflicht bei Interpretation von EuGH-Rechtsprechung
Licht am Horizont der Europafreundlichkeit erzeugt aber das BVerfG, das kürzlich nicht nur eine BFH-Entscheidung aufgehoben hat, in der die EuGH-Rechtsprechung willkürlich ungünstig interpretiert wurde (BVerfG vom 04.03.2021 – 2 BvR 1161/19, IStR 2021 S. 363).Danach liegt Willkür vor, wenn
- die Vorlagepflicht durch den BFH grundsätzlich verkannt wird;
- von der EuGH-Rechtsprechung bewusst abgewichen wird;
- die EuGH-Rechtsprechung in der entscheidungserheblichen Frage noch unvollständig ist.
Es hat auch vorgegeben, dass bei willkürlicher Verletzung der Vorlagepflicht Nichtigkeitsklage vor dem BFH zu erheben ist (BVerfG vom 27.4.2021 – 1 BvR 2731/19, IStR 2021 S. 556).
Ergänzend ist die EuGH-Entscheidung vom 06.10.2020 – „Consorzia … e Catania …“ – zu sehen, die die Vorlagepflicht auch aus Art. 47 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union ableitet, die zu den Beschlüssen des BVerfG (vom 06.11.2019 – 1BvR 276/17 und vom 01.12.2020 – 2BvR 1845/18) geführt hat, nach denen jetzt auch die Verfassungsbeschwerde gestützt auf Unionsrecht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG möglich ist.