Sämtliche Verzinsungstatbestände unterliegen einem typisierten Zinssatz von 6% p.a., also 0,5% für jeden vollen Monat (§ 238 Abs. 1 AO). Durch die Erhebung dieser Zinsen sollen Liquiditäts- und Zinsvorteile abgeschöpft werden, die durch die Überlassung des Kapitals und den damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten entstehen. Die wirtschaftliche Realität zeigt jedoch, dass der Stpfl. tatsächlich gar nicht die Möglichkeit hat, die festgesetzten Zinsen etwa durch Anlage der nicht gezahlten Steuerbeträge zu erzielen. Umgekehrt wird auch der Fiskus eine solche Zinshöhe am Kapitalmarkt nicht risikolos erzielen können.
Seit 2014 beschäftigt sich auch die Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Vereinbarkeit des Zinssatzes mit grundgesetzlichen Maßstäben. Die erhebliche Diskrepanz, die zwischen dem vom Gesetzgeber in § 238 Abs. 1 AO normierten und dem aktuell am Markt zu realisierenden Zinssatz klafft, ist verfassungsrechtlich unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Übermaßverbot nicht unproblematisch. Mittlerweile sind hierzu zwei Verfassungsbeschwerden beim BVerfG anhängig (Az. 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17).
Trotz der seit längerem in Rechtsprechung und Literatur artikulierten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe des § 238 Abs. 1 AO, sah der Gesetzgeber bisher noch keinen Bedarf, den seit 1961 unveränderten Zinssatz an das mittlerweile dauerhaft niedrige Marktzinsniveau anzupassen.
Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs
Während der III. Senat des BFH in 2017 noch von der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes für den Zinszeitraum 2013 ausging (Urteil vom 09.11.2017 – III R 10/16), erkannten der IX. und VIII. Senat des BFH in 2018 in dem Zinssatz von 6% p.a. eine erhebliche Überschreitung des noch angemessenen Rahmens (BFH vom 25.04.2018 – IX B 21/18, DB 2018 S. 1190; vom 03.09.2018 – VIII B 15/18). Unter Hinweis auf die strukturelle und nachhaltige Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus formulierte der BFH in seinen Beschlüssen insbesondere den Vorwurf einer realitätsfernen Bemessung. Da es sich gerade nicht um bloß vorübergehende, typische zyklische Zinsschwankungen handele, begegne der Zinssatz schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln.
Mit Beschluss vom 04.07.2019 – VIII B 128/18 hat der BFH seine bisherige Spruchpraxis zur Festsetzung von Zinsen bestätigt und erörtert, dass jedenfalls für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2012 erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Festsetzung eines Jahreszinses von 6% auf Steuerbeträge, deren Vollziehung zeitweise ausgesetzt worden ist, bestehen (sog. Aussetzungszinsen gem. §§ 233, 237, 238 AO).
Die BFH-Verfahren hatten jeweils die Rechtmäßigkeit der (teilweisen) Ablehnung eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung im vorläufigen Rechtsschutz zum Gegenstand und daher keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Verwaltungspraxis.
Finanzverwaltung nimmt Zinsfestsetzungen nunmehr vorläufig vor
Dennoch ging die Finanzverwaltung seit Ende 2018 als Folge der dargestellten BFH-Rechtsprechung dazu über, für Zinsbescheide betreffend die Verzinsungszeiträume ab dem 01.04.2012 auf Antrag des Zinsschuldners Aussetzung der Vollziehung (§ 361 AO) zu gewähren (BMF vom 14.12.2018 – IV A 3 – S 0465/18/10005-01, DB 2019 S. 31).
Nunmehr hat das BMF mit Schreiben vom 02.05.2019 (BStBl. I 2019 S. 448 = DB 2019 S. 1118) angeordnet, dass Festsetzung von Zinsen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes von 0,5% pro Monat künftig nur noch vorläufig erfolgen soll.
Die Maßnahme der Finanzverwaltung soll dem Rechtsschutzbedürfnis des Stpfl. Rechnung tragen. Eine rechtliche Wertung durch die Finanzverwaltung sei hierin jedoch nicht zu sehen, vielmehr erfolge die vorläufige Festsetzung aus rein verfahrenstechnischen Gründen.
Für den Stpfl. hat dies aber dennoch den Vorteil, dass die Erhebung eines Einspruchs gegen den Zinsbescheid nicht mehr erforderlich ist. Sollte das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes feststellen, muss nämlich das zuständige Finanzamt eine Änderung der vorläufigen Zinsfestsetzungen von Amts wegen vornehmen.
Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Zinsbescheids
Zu beachten ist allerdings, dass auch eine vorläufige Festsetzung von Zinsen durch die Finanzverwaltung eine Zahlungsverpflichtung des Stpfl. begründet. Die Vollziehung des Zinsbescheids durch die Finanzverwaltung kann nur durch die Einlegung eines Einspruchs verbunden mit einem gesonderten Antrag auf die Aussetzung der Vollziehung gehemmt werden (§ 361 Abs. 2 Satz 2 AO). Die anhängigen Verfassungsbeschwerden zeigen, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der dem Zinsbescheid zugrunde liegenden Norm bestehen, sodass für den Stpfl. insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis für die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung besteht. Das Einspruchsverfahren selbst ruht dann bis zur Entscheidung des BVerfG (§ 363 Abs. 2 Satz 2 AO).
Ausblick
Die abschließende Entscheidung des BVerfG über die Verfassungskonformität des Zinssatzes wird noch in diesem Jahr erwartet. Sollte das BVerfG auf die Verfassungswidrigkeit von § 238 Abs. 1 AO erkennen, so ist es am Gesetzgeber einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen und die konkrete Höhe eines Zinssatzes realitätsgerecht zu bestimmen. Vorbild für eine mögliche variable Ausgestaltung der Zinshöhe in Abhängigkeit des Marktzinssatzes ist bereits die Normierung des Basiszinssatzes in § 247 BGB.
Die Entscheidung des BVerfG wird zudem auch für die an diese Diskussion anknüpfende Frage der (verlorenen) Realitätsnähe des typisierenden Zinssatzes von 5,5% für die Abzinsung von Verbindlichkeiten gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG – so jedenfalls das FG Hamburg (Beschluss vom 31.01.2019 – 2 V 112/18) – richtungsweisend sein.