Die erste Phase der Pandemie liegt hinter uns. Die strikten Beschränkungen für die Wirtschaft werden gelockert. Allerdings wirft die viel beschworene „neue Normalität“ für Unternehmen etliche rechtliche Fragen auf. Es gilt nicht nur, gesundheitliche Risiken von Kunden und Geschäftspartnern zu minimieren, sondern auch, die eigene Belegschaft vor Infektionen zu schützen. Vor allem, wenn diese einer Risikogruppe angehören. Wie das rechtssicher gelingen kann, weiß Eva Wißler, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Partnerin bei Pusch Wahlig Workplace Law in Frankfurt/M.
DB: Betriebe dürfen derzeit nur unter der Auflage öffnen, dass Abstands- und Hygieneregeln gewahrt sind. Können Arbeitgeber von ihren Beschäftigten auch verlangen, vorm Betreten des Geländes die Temperatur zu messen, um Hinweise auf eine mögliche Covid-19-Infektion zu erhalten?
Wißler: Diese Frage wird sehr kontrovers diskutiert und ist ein gutes Beispiel dafür, inwiefern wissenschaftliche Erkenntnisse die Rechtslage im Arbeitsrecht beeinflussen können. Die Fiebermessung selbst ist – jedenfalls nach derzeitigem Stand – keine sichere Erkenntnisquelle für eine Corona-Infektion; Fieber kann vielerlei Ursachen haben und es gibt genügend ansteckende Covid-19-Erkrankte, die kein Fieber haben. Die Anordnung der Temperaturmessung müsste zudem vom Direktionsrecht des Arbeitgebers erfasst sein.
DB: Ist sie das?
Wißler: Es kommt darauf an. Eine Temperaturmessung ist, rechtlich betrachtet, eine Erhebung von Gesundheitsdaten am Arbeitsplatz. Eine Datenerhebung kann nach Ansicht der deutschen Datenschutzbehörden zulässig sein, wenn dadurch erforderliche Maßnahmen zum Schutz der anderen Beschäftigten ergriffen werden. Allerdings ist die Erforderlichkeit nur schwer zu begründen, wenn der gewünschte Erfolg aufgrund der Unzuverlässigkeit der Methode kaum zu erreichen ist. Ein weiteres Problem ist, dass selbst die Einwilligung der Mitarbeiter in eine Temperaturmessung keine Rechtssicherheit für den Arbeitgeber schafft. Denn diese Einwilligung könnten die Datenschutzbehörden als unwirksam ansehen, weil sie deren Freiwilligkeit bezweifeln: Der Mitarbeiter will/muss schließlich seinen Arbeitsplatz erreichen, um die Arbeitsleistung ordnungsgemäß zu erfüllen – was bleibt ihm also übrig, als am kollektiven Fiebermessen teilzunehmen? Nach derzeitigem Stand ist Arbeitgebern daher von einer Temperaturmessung abzuraten. Anders sähe die Beurteilung aus, wenn bei konkreten Verdachtsfällen der Betriebsarzt tätig würde; denn dieser unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht. In Fragen des Gesundheitsschutzes besteht – ungeachtet dessen – selbstverständlich ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates.
DB. Nicht nur medizinisches Personal, auch Erzieherinnen und Lehrer tragen laut Virologen ein hohes Gesundheitsrisiko, da coronainfizierte Kinder, zwar ansteckend aber oft symptomlos sind. Diskutiert wird deshalb, nur junge Lehrer und Erzieher ohne Vorerkrankungen in die Klassen zu schicken, da sie seltener schwerer Verläufe entwickeln. Wer Angehörige hat, die zu einer Risikogruppe zählen, soll den Einsatz ‚am Kind‘ ebenfalls verweigern dürfen. Ist ein solches Konzept arbeitsrechtlich durchsetzbar?
Wißler: Grundsätzlich kann dieses Konzept das AGG tangieren, denn der Arbeitgeber differenziert bei unter anderem nach dem Alter der Beschäftigten. Es ist aber zu fragen, welche der beiden Gruppen in dieser Konstellation tatsächlich benachteiligt wäre. Auf den ersten Blick mag dies die Gruppe sein, der man die Arbeit am Kind „zumutet“. Jedoch darf man nicht vergessen, dass im laufenden Arbeitsverhältnis aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung für alle Arbeitnehmer folgt. In dieses Recht wird durch dieses Konzept eingegriffen. Umgekehrt könnte aber auch eine Benachteiligung der jüngeren Gruppe gesehen werden, nämlich durch ein womöglich erhöhtes Risiko einer Ansteckung und der damit verbundenen Gesundheitsgefahr. Die Zulässigkeit der Differenzierung richtet sich danach, ob es als sachliche Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung genügt, wenn auf Grundlage der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse jüngere Personen einer niedrigeren aber dennoch vorhandenen Gesundheitsgefahr ausgesetzt sind. Diese Überlegung gilt entsprechend für diejenigen, die mit Risikopersonen zusammenleben. Ob ein Gericht dies im Ergebnis bejahen wird, ist offen.
DB: Wer konnte, hat in Zeiten der strengen Kontaktbeschränkungen meist im Homeoffice gearbeitet. Nun überlegen viele Betriebe, die Präsenzpflicht wieder einzuführen. Geht das ohne Weiteres – gerade, wenn die Betroffenen ins Großraumbüro zurücksollen oder es in einem Hochhaus nur einen Aufzug für alle gibt?
Wißler: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard herausgegeben. Darin sind zeitlich befristete zusätzliche Maßnahmen zum Infektionsschutz aufgeführt, und zwar in Gestalt von besonderen technischen, organisatorischen und personenbezogenen Maßnahmen. Enthalten sind etwa Vorgaben zur Arbeitsplatzgestaltung (Mindestabstand, Trennwände aus Plexiglas etc.) aber auch zur Arbeitszeit (z.B. zur Verringerung der Belegungsdichte) oder zu Schutzausrüstungen (etwa Mund-Nasen-Bedeckungen). Die Tätigkeit im Homeoffice ist als eine Option ebenfalls aufgeführt. Der Arbeitsschutzstandard selbst hat zwar nicht den Charakter eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung. Allerdings gibt er den arbeitsschutzrechtlichen Rahmen für Arbeiten im Präsenzbetrieb vor.
DB: Dennoch müssen Arbeitgeber die Besonderheiten ihres eigenen Betriebs und ihrer Branche berücksichtigen…
Wißler: Das stimmt. Der Arbeitgeber trägt die Verantwortung für die Umsetzung notwendiger Maßnahmen nach einer arbeitsschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilung. Die Unfallversicherungsträger konkretisieren derzeit den SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard, um auf diese Weise die Umsetzung in den einzelnen Branchen zu erleichtern.
DB: Wäre der Arbeitgeber haftbar, wenn sein Hygienekonzept nicht trägt und sich Mitarbeiter während der Arbeit infizieren?
Wißler: Theoretisch ist das denkbar; allerdings wird der Nachweis schwerlich zu führen sein, dass die Infektion wirklich am Arbeitsplatz erfolgt ist. Behördliche Auflagen drohen aber durchaus.
DB: Wie lange dauert es nach ihrer Erfahrung, den normalen Präsenzbetrieb wieder hochzufahren?
Wißler: Das ist sehr unterschiedlich, zumal niemand weiß, wie sich das Infektionsgeschehen entwickeln wird. Arbeitgeber müssen aber in jedem Fall die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte wahren. Soll beispielsweise die Lage der Arbeits- und oder der Pausenzeiten verändert werden, um die Belegungsdichte zu reduzieren, ist dies nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG mitbestimmungspflichtig. Arbeitgeber sollten daher frühzeitig ihr Konzept zur Rückkehr in die Normalität mit den betrieblichen Fachkräften für Arbeitssicherheit, ggf. dem Betriebsarzt aber auch den zuständigen Betriebsräten abstimmen.
DB: Könnte sich ein Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen weigern, wieder ins Büro zu kommen und über eine Art „Corona-BEM“ einen Anspruch auf Homeoffice für sich durchsetzen?
Wißler: Das wäre riskant, denn der Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“ gilt auch in Corona-Zeiten. Damit die Arbeitsverweigerung rechtens wäre, müsste der Arbeitnehmer nachweisen, dass ihm die Aufnahme der Tätigkeit im Büro unzumutbar ist, da beispielsweise der Arbeitgeber seinen Schutzpflichten nicht ausreichend nachgekommen ist. Denkbar ist es allerdings, im Rahmen eines BEM, das anlässlich einer längeren Erkrankung durchgeführt wurde, im konkreten Fall ein Recht auf Homeoffice zu vereinbaren, um Erkrankungen künftig zu reduzieren oder zu vermeiden. Grundsätzlich ist in kritischen Fällen, insbesondere bei Risikopatienten, beiden Seiten der Dialog zu empfehlen. Denn es gibt – hoffentlich bald –auch wieder eine dann wirklich normale Zeit nach Corona und in die will niemand mit einem belasteten Arbeitsverhältnis starten.
Vielen Dank für das Interview, Frau Wißler!
Das Interview führte Catrin Gesellensetter.