Hintergrund: Wegzugsbesteuerung bei Aufgabe des Wohnsitzes / gewöhnlichen Aufenthaltes, aber auch bei unentgeltlicher Übertragung der Anteile an den Kapitalgesellschaften
Grundsätzlich erfolgt die Besteuerung von stillen Reserven in Kapitalgesellschaftsanteilen erst bei Realisierung, welche insbesondere durch Veräußerung der Anteile verwirklicht wird (vgl. §§ 17, 20 Abs. 2 EStG). Ist der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre zu mindestens 1% am Kapital der Gesell-schaft beteiligt, erzielt der Gesellschafter mit der Veräußerung gewerbliche Einkünfte i.S.d. § 17 Abs. 1 EStG. Der Veräußerungsgewinn ermittelt sich nach § 17 Abs. 2 EStG, er entspricht dem Betrag, um den der erzielte Veräußerungspreis die Veräußerungskosten sowie die Anschaffungskosten übersteigt.
§ 6 AStG erweitert den Anwendungsbereich des § 17 EStG für natürliche Personen, die für mindestens sieben Jahre innerhalb der zwölf Jahre vor ihrem Wegzug unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i.S. d. § 1 Abs. 1 EStG waren, sofern deren unbeschränkte Steuerpflicht im Inland durch die Aufgabe ihres Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland endet. In diesen, von § 6 AStG erfassten Fällen kommt es, obwohl die Anteile unverändert im Eigentum des Gesellschafters stehen, ohne Anteilsveräußerung zur Aufdeckung und Besteuerung der in den Anteilen an der Kapitalgesellschaft i.S.d. § 17 EStG enthaltenen stillen Reserven (sog. Abschlussbesteuerung). Begründet wird diese Abschlussbesteuerung damit, dass das Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne aus Anteilen an Kapitalgesellschaften nach dem anzuwendenden Doppelbesteuerungsabkommen, so wie in Art. 13 Abs. 1 OECD-MA vorgesehen, i.d.R. dem Wohnsitzstaat des Anteilseigers zugewiesen wird. Folglich würde Deutschland Steuersubtrat verlieren, wenn beim Wegzug keine abschließende Besteuerung der stillen Reserven erfolgen würde, weil mit dem Wegzug des Gesellschafters das Besteuerungsrecht auf den „neuen Wohnsitzstaat“ übergehen würde. Der bisherige Wohnsitzstaat (also Deutschland) würde das Besteuerungsrecht jedoch dann nicht verlieren, wenn das anzuwendende Doppelbesteuerungsabkommen eine davon abweichende Regelung vorsieht. Das OECD-MA kennt eine solche Ausnahmeregelung für sog. Immobiliengesellschaften, bei denen das Gesellschaftsvermögen zum überwiegenden Teil aus inländischen Grundvermögen besteht, und weist das Besteuerungsrecht dem Belegenheitsstaat und damit auch im Falle eines Wegzugs unverändert dem bisherigen Wohnsitzstaat zu (sog. Immobilien-klausel, Art. 13 Abs. 4 OECD-MA).
Neben dem ausgeführten Grundfall der Besteuerung und Aufdeckung der in den Anteilen an Kapitalgesellschaften enthaltenen stillen Reserven im Falle eines Wegzugs (sog. Wegzugsbesteuerung), enthält § 6 AStG einige Ersatztatbestände, nach welchen eine Besteuerung auch aus anderen Gründen ausgelöst werden kann. So ordnet der Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AStG an, dass auch die ganz oder teilweise unentgeltliche Übertragung von Kapitalgesellschafts-anteilen im Wege der Schenkung oder durch Erwerb von Todes wegen auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person (Beschenkte, Vermächtnisnehmer, Erbe) der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht gleichgestellt ist. Denn auch in diesen Fällen kommt es in der Regel zum Verlust des deutschen Besteuerungsrechts an den Gewinnen aus der Veräußerung der Anteile an den Kapitalgesellschaften, weil der neue Anteilseigner nicht in Deutschland ansässig ist, mithin das Besteuerungsrecht nach den zur Anwendung kommenden Doppelbesteuerungsabkommen in der Regel nicht Deutschland, sondern dessen Wohnsitzstaat zugewiesen wird. Eine Ausnahme würde wiederum gelten, wenn das maßgebliche Doppelbesteuerungsabkommen eine sog. Immobilienklausel enthalten und diese zur Anwendung kommen würde. Der BFH musste nun entscheiden, ob der tatsächliche Verlust des Besteuerungsrechts (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal des angesprochenen Ersatztatbestandes ist und damit eine Besteuerung nach dieser Regelung ausscheidet, sofern Deutschland das Besteuerungsrecht aufgrund des zur Anwendung kommenden Doppelbesteuerungsabkommens nach der unentgeltlichen Übertragung überhaupt nicht eingeschränkt wird.
Sachverhalt der Entscheidung
Im Streitfall hat der Kläger seiner in Deutschland ansässigen Ehefrau und seinem in den USA ansässigen Sohn GmbH-Geschäftsanteile teilweise unentgeltlich übertragen. Das Gesellschaftsvermögen der betreffenden GmbH bestand im Wesentlichen aus im Inland belegenem Grundvermögen.
Das Finanzamt behandelte die Übertragung auf den Sohn als teilentgeltlichen Erwerb und setzte für den entgeltlichen Teil einen steuerpflichtigen Übertragungsgewinn nach § 17 EStG fest. Für den unentgeltlichen Teil der Übertragung sah das Finanzamt § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AStG a.F. (heutiger § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AStG) als erfüllt an, weil Anteile an einer Kapitalgesellschaft auf eine im Inland nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person übertragen wurden. Dementsprechend setzte das Finanzamt im Einkommensteuerbescheid des Klägers (bisherigen Anteilseigners) einen fiktiven Veräußerungsgewinn an und veranlagte entsprechend. Mangels tatsächlicher Veräußerung wurde anstelle des Veräußerungspreises der gemeine Wert der Anteile herangezogen. Aufgrund der Tatsache, dass im vorliegenden Fall das deutsche Besteuerungsrecht aufgrund der Immobilienklausel in Art. 13 Abs. 2b DBA DEU-USA nicht ausgeschlossen oder beschränkt wurde, begehrte der Kläger eine teleologische Reduktion des in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AStG enthaltenen Ersatztatbestandes. Nachdem sowohl Einspruch als auch die Klage beim FG (FG Köln vom 28.03.2019 – 15 K 2159/15) erfolglos blieben, durfte nun der BFH entscheiden.
Entscheidung des BFH vom 08.12.2021 (I R 30/19)
Der BFH folgte der Auffassung des Finanzamtes und wies die Revision, wie bereits das FG seine Klage, ab. Dies begründete das Gericht damit, dass der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AStG sei. Der BFH geht zwar auf die in der Literatur vertretene Auffassung ein, dass bei alleiniger Betrachtung des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AStG der Besteuerungstatbestand zu weit reiche, weil die Besteuerung eines fiktiven Veräußerungsgewinns nicht davon abhängig gemacht wird, dass das deutsche Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder zumindest beschränkt wird. Allerdings stellte der BFH auch klar, dass der Steuergesetzgeber sich bewusst für die Einführung des neuen Ersatztatbestandes des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG anstelle der Ergänzung der bisherigen Regelung entschieden hat. In dem neuen Auffangtatbestand wird der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Kapitalgesellschaftsanteile aufgrund anderer als in Nr. 1 bis 3 der Beendigung der unbeschränkten Steuerplicht gleichgestellt. Hieraus sei erkennbar, dass der Steuergesetzgeber weiterhin Fälle der Wegzugsbesteuerung erfassen will, in denen es nicht auf den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts ankomme, so der BFH. Würde man bereits in die § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AStG den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrecht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal hineinlesen, so bliebe für den § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG kaum noch ein Anwendungsbereich.
Zwar könne angeführt werden, dass der sofortige Besteuerungszugriff nicht gerechtfertigt sei, da das deutsche Besteuerungsrecht im Streitfall aufgrund des nationalen Anknüpfungspunktes (inländische Einkünfte nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e EStG) und der Einschlägigkeit der Immobilienklausel (Art. 13 Abs. 2b DBA DEU-USA) nicht verloren ginge und die Regelung somit teleologisch zu reduzieren sei. Dem gegenüber stünde allerdings die abstrakte Gefahr, dass das Finanzamt ungeachtet der Steuererklärungspflicht keine Kenntnis vom Verlust oder Beschränkung des deutschen Besteuerungs-rechts erlangt und die GmbH jederzeit ihr Vermögen umschichten könne und somit ohne steuerliche Rechtsfolgen in Deutschland aus dem Auswendungsbereich der Immobilienklausel fallen würde, da das deutsche Steuerrecht in solchen Fällen keine Entstrickungsbesteuerung vorsieht. Denn § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG gilt nur für unbeschränkt Steuerpflichtige, nicht aber für beschränkt Steuerpflichtige.
Ohnehin kommt eine verfassungsrechtliche Auslegung und somit eine teleologische Reduktion des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AStG nicht infrage, wenn das Ergebnis der Auslegung im Widerspruch zum Wortlaut sowie zum dem erkennbaren Willen des Gesetzes steht.
Auswirkung für die Praxis
Der BFH hat mit seiner Entscheidung vom 08.12.2021 klargestellt, dass jeder Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 AStG einzeln zu prüfen ist. Der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts stellt kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Ersatztatbestände § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AStG dar. Damit löst die un- bzw. teilentgeltliche Übertragung von Anteilen i.S. von § 17 EStG an eine in Deutschland nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person die Wegzugsbesteuerung selbst dann aus, wenn das Vermögen der Gesellschaft überwiegend aus in Deutschland belegenen Immobilien besteht.
In der Praxis sollten Steuerpflichtige daher nicht nur die erb- und schenkungsteuerlichen Folgen unentgeltlicher Übertragungen von Anteilen an Kapitalgesellschaften i.S.d. § 17 EStG, sondern stets auch die ertragsteuerlichen Folgen bei vollständiger oder teilweiser unentgeltlicher Übertragung von Kapitalgesellschaftsanteilen an nicht in Deutschland ansässige Personen beachten und nach Möglichkeit durch entsprechende Gestaltungen die ungewünschten steuerlichen Folgen einer Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG verhindern.