In einer jüngst veröffentlichten gemeinsamen Erklärung vom 23. März 2020 hat das European Competition Network (ECN) Unternehmen auf die Fortgeltung des Kartellrechts hingewiesen, gleichzeitig aber auch eine gewisse, zumindest temporäre, Flexibilität bei der Anwendung des Kartellrechts in besonderen Situationen angekündigt und den Unternehmen aktiv informelle Konsultationen angeboten.
Kartellrecht grundsätzlich vollumfänglich anwendbar
Auch in der derzeitigen Ausnahmesituation bleibt das Kartellverbot (Art. 101 AEUV, § 1 GWB, Section 1 US Sherman Act) grundsätzlich anwendbar. Hierauf haben Kartellbehörden in Europa in den letzten Tagen mehrfach aufmerksam gemacht. Die britische Competition and Markets Authority (CMA) hat bereits zu Beginn der Krise angekündigt, mögliche Preissteigerungen bei krisenbedingt besonders nachgefragten Medizinprodukten genau zu beobachten. Auch das ECN, in dem die Kartellbehörden in der EU zusammenarbeiten, hat als Reaktion auf die Krise am 23. März 2020 in seiner gemeinsamen Erklärung auf die grundsätzliche Geltung des Kartellrechts hingewiesen. Danach verfolgen die Kartellbehörden in der EU auch in Zeiten der Krise das Ziel, für Unternehmen ein wettbewerbliches Level Playing Field sicherzustellen. Raum für Kooperationen zwischen Wettbewerbern, die die Auswirkungen der Krise abfangen können, besteht allerdings dann, wenn aus der Zusammenarbeit verbraucherrelevante Effizienzvorteile hervorgehen, wie z.B. ein effizienterer Personal- und Produktionsmitteleinsatz, Synergien bei Einkaufs-, Logistik- oder Vermarktungskooperationen oder auch ein Austausch krisenrelevanter Informationen, z.B. zu Produktionsengpässen oder Lösungen zur Bewältigung von Versorgungsrisiken. So hat auch das ECN in seiner gemeinsamen Erklärung vom 23. März 2020 krisenbedingte Ausnahmen in Aussicht gestellt und bestätigt, dass die nationalen europäischen Kartellbehörden nicht aktiv gegen notwendige und zeitlich beschränkte Kooperationen zur Sicherstellung der Versorgung vorgehen werden.
Sorgenkind Lebensmitteleinzelhandel – Kartellbehörden stellen gewisse Flexibilität in Aussicht
Besonders schwer trifft die Krise zurzeit den Lebensmitteleinzelhandel. Der durch die Einführung von Kontrollen an EU-Grenzen verursachte Stau im Güterverkehr führt seit Tagen immer wieder zu leeren Regalen in den Supermärkten. Hamsterkäufe tun ihr Übriges, um die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln zu gefährden. In einer am 16. März 2020 veröffentlichten Stellungnahme rief EuroCommerce, der europäische Dachverband für den Groß- und Einzelhandel, die Händler dazu auf, Informationen über ihre jeweiligen Bestände auszutauschen und Lieferungen in die Wohnungen von Hilfsbedürftigen zu organisieren. An die Regierungen und Kartellbehörden richtete der Verband den Appell, das Kartellrecht angesichts der besonderen Umstände zu lockern, um solche Kooperationen zu erlauben, solange die COVID-19-Krise andauert. Als Reaktion haben mehrere Staaten Ausnahmen vom Kartellverbot angekündigt, um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen essentiellen Gütern zu sichern.
- So hat z.B. die britische Regierung Lebensmittelhändlern bereits am 19. März 2020 gestattet, Informationen zu Lagerbeständen auszutauschen und im Bereich der Logistik, des Personaleinsatzes und der Lagerhaltung zu kooperieren. Das Kartellrecht wird insoweit temporär ausgesetzt.
- Auch das ECN weist in seiner gemeinsamen Erklärung vom 23. März 2020 auf die derzeit außergewöhnlichen Marktumstände hin, die Kooperationen zur Sicherstellung der Versorgung mit stark nachgefragten Produkten erfordern und temporär kein behördliches Eingreifen rechtfertigen.
- Ähnliche Lockerungen speziell für den Handel werden auch von deutschen Verbänden gefordert. Sowohl die deutsche Politik als auch das Bundeskartellamt haben bereits signalisiert, eine krisenbedingte Lockerung kartellrechtlicher Vorgaben für die Zusammenarbeit unter Wettbewerbern zu befürworten. Wie die angestrebten Ausnahmen konkret aussehen könnten, ist allerdings noch nicht absehbar.
Bei der konkreten Umsetzung wird es wesentlich auf die Reichweite und Dauer der Zusammenarbeit sowie den Umfang der dabei ausgetauschten wettbewerbsrelevanten Informationen ankommen. Besonders schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen, wie vor allem Preis- und Mengenabsprachen, werden sich kaum mit den Verwerfungen des Marktes rechtfertigen lassen.
Einseitige Notmaßnahmen unterfallen dem Missbrauchsverbot
Das Kartellrecht ist auch bei einseitigen Notmaßnahmen gegenüber Zulieferern, Vertriebspartnern und Kunden, wie z.B. Produktions- und Lieferstopps, Einschränkung von Dienstleistungsangeboten, Kündigungen von Kooperationsverträgen oder Filialschließungen zu beachten. Dies gilt grundsätzlich auch, wenn es hierfür bei vielen Unternehmen zwingende Gründe geben wird, wie v.a. den Schutz der Gesundheit von Mitarbeitern und Kunden oder auch eine drohende finanzielle Schieflage bei Aufrechterhaltung der Leistungen ohne entsprechende Kundennachfrage. Kartellrechtlich können diese Maßnahmen relevant sein, wenn die Unternehmen marktbeherrschend sind oder Geschäftspartner von ihnen abhängig sind. In diesem Fall sind auch unilaterale Rettungsmaßnahmen am kartellrechtlichen Missbrauchsverbot zu messen, das international gilt (Art. 102 AEUV, §§ 19, 20 GWB, Section 2 US Sherman Act). Dies gilt insbesondere dann, wenn Geschäftspartner aufgrund von Lieferstopps oder Einstellung von Dienstleistungen unmittelbar in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet sein könnten. Gleichzeitig warnen Kartellbehörden vor ausbeuterischen Preissteigerungen für krisenbedingt besonders nachgefragte Produkte. Hier nimmt das ECN in seiner gemeinsamen Erklärung Hersteller solcher Produkte in die Pflicht und weist auf die Möglichkeit hin, Vertriebspartnern maximale Weiterverkaufspreise vorzugeben, um Preisaufschläge in der Vertriebskette zu verhindern.