Divergenz von handels- und steuerrechtlichen Regelungen zur Abzinsung von Sachleistungsverpflichtungen
Im Streitfall wurde die von der Klägerin dem Grunde nach unstreitig passivierte Rückstellung für Sachleistungsverpflichtungen bis einschließlich 2009 in der Handels- und Steuerbilanz einheitlich bewertet. In der Handelsbilanz zum 31.12.2010 hatte die Klägerin erstmals von dem Wahlrecht zur Bewertung von Rückstellungen gem. § 253 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 HGB i.d.F. des BilMoG Gebrauch gemacht und den Erfüllungsbetrag der Sachleistungsverpflichtung abgezinst. Für die Ermittlung des Steuerbilanzwertes der Rückstellung erfolgte keine Abzinsung, da die Klägerin mit der Erfüllung der Verpflichtung bereits begonnen hatte (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e Satz 2 EStG). Der Rückstellungsbetrag in der Handelsbilanz zum 31.10.2010 unterschritt den unter Anwendung von § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG ermittelten Steuerbilanzwert.
Der Streitfall ist auf die durch das BilMoG begründete Divergenz zwischen den handels- und steuerrechtlichen Abzinsungsregelungen (handelsrechtliche Abzinsungsverpflichtung mit einem der Restlaufzeit entsprechenden Marktzinssatz vs. Abzinsung mit dem typisierten Zinssatz i.H.v. 5,5% gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e EStG) bis zum Beginn der Maßnahme zurückzuführen. Vor dem Streitjahr 2010 stellte sich das Problem eines niedrigeren handelsrechtlichen Rückstellungswertes praktisch nicht, weil das HGB eine Abzinsung nicht erlaubte.
Der Beklagte und das dem Verfahren beigetretene BMF vertraten die Auffassung, dass der niedrigere Handelsbilanzansatz der Rückstellung gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG für die Steuerbilanz der Klägerin i.S. einer Wertobergrenze maßgeblich sei. Diese „Mindestmaßgeblichkeit“ handelsbilanzieller Rückstellungsansätze werde nur dann durchbrochen, wenn bei Anwendung der steuerlichen Bewertungsvorschriften der handelsrechtliche Wertansatz unterschritten werde. Der sich aus der erstmaligen Anwendung des BilMoG zum 31.12.2010 durch die Auflösung der Rückstellung ergebende Gewinn könne durch gewinnmindernde Einstellung in einen Sonderposten über einen Zeitraum von 15 Jahren verteilt werden.
§ 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG soll Öffnungsklausel darstellen
Der BFH ist der Auffassung, dass die „höchstens insbesondere“-Formulierung des § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG eine Öffnungsklausel für den Ansatz den steuerlichen Rückstellungsansatz unterschreitender handelsbilanzieller Rückstellungsansätze darstellt.
Kritische Würdigung der BFH-Auffassung
Die BFH-Entscheidung steht nach Auffassung des Verfassers mit dem bisherigen Verständnis zum Verhältnis steuerlicher Bewertungsvorschriften zum Maßgeblichkeitsprinzip nicht in Einklang: Denn die mit dem BilMoG erfolgte Abschaffung der formellen Maßgeblichkeit hat im Grundsatz zur Folge, dass keine Bindung des konkreten (GoB-konformen) Bilanzansatzes in der Handelsbilanz für die Steuerbilanz mehr besteht. Die materielle Maßgeblichkeit handelsrechtlicher GoB für die Steuerbilanz wird insbesondere im Bereich der Bewertung durch die steuerlichen Sondervorschriften durchbrochen (§ 5 Abs. 6 EStG). Dies bedeutet: Im Bereich der Rückstellungsbewertung können die handelsrechtlichen GoB nur dann herangezogen werden, wenn die Regelungen des § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. a bis f EStG lückenhaft wären. Dies ist aber im Bereich der Rückstellungsbewertung nicht der Fall, sodass § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG nach dem umfassenden steuerlichen Bewertungsvorbehalt (§ 5 Abs. 6 EStG) vorrangig gegenüber dem allgemeinen Maßgeblichkeitsgrundsatz ist.
Mit vorstehender Systematik ist das Ergebnis des BFH, dass der Vorrang des umfassenden steuerrechtlichen Bewertungsvorbehalts durch den „höchstens insbesondere“-Verweis des § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG i.S. einer „Mindestmaßgeblichkeit“ des konkreten handelsbilanziellen Rückstellungsansatzes durchbrochen wird, nicht vereinbar. Stimmiger ist, die Formulierung i.S. eines steuerlichen Wahlrechts im Bereich der Rückstellungsbewertung zu verstehen. Steuerlich zulässig wäre danach der Ansatz jedes den nach § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. a bis f EStG ermittelten Höchstbetrag unterschreitenden Wertansatzes. Auch spricht das Wort „höchstens“ dafür, dass durch § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG der Höchstbetrag der Bewertung bestimmt wird. Und „höchstens insbesondere“ ist in dem Sinne zu verstehen, dass nach der Anwendung von § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG verbleibende Regelungslücken durch § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG und danach verbleibende Regelungslücken durch den Rückgriff auf die handelsrechtlichen GoB zu schließen sind.
Soweit der BFH zur Ermittlung des historischen Willens des Gesetzgebers den Bericht des Finanzausschusses zu § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG heranzieht, wonach ein zulässigerweise niedrigerer Rückstellungsausweis in der Handelsbilanz in die Steuerbilanz zu übernehmen ist (s. BT-Drucks. 14/443 S. 23), lässt er unberücksichtigt, dass das seinerzeit geltende Handelsbilanzrecht eine Abzinsung nicht erlaubte. Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig überzeugend, der Finanzausschuss habe für jede künftige neue Regelung des handelsrechtlichen Rückstellungsrechts – die damals noch gar nicht bekannt sein konnte–- eine steuerliche Sperrwirkung begründen wollen.
Bedeutung der BFH-Entscheidung
Die BFH-Entscheidung durchbricht das bisherige Verständnis zum Verhältnis steuerlicher Sondervorschriften im Bereich der Rückstellungsbewertung zum Maßgeblichkeitsprinzip. Von Bedeutung ist die Entscheidung für Rückstellungen für Sachleistungsverpflichtungen, die über einen längeren Zeitraum zu erbringen sind (z.B. im Zusammenhang mit Rekultivierungs- und Rückbauverpflichtungen) und bei denen der handelsrechtliche Rückstellungswert den steuerlichen Rückstellungsansatz zulässigerweise unterschreitet. Für die Bewertung von Pensionsrückstellungen (§ 6a Abs. 3 EStG enthält ebenfalls die Formulierung „höchstens“), soll dies allerdings nicht gelten (s. R 6.11 Abs. 3 EStR). Die Entscheidung verdeutlicht zudem auch, dass die Zielsetzung des Gesetzgebers, die Einführung des BilMoG steuerneutral auszugestalten, im Ergebnis deutlich verfehlt wird.