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28.05.2019

Interview

EuGH-Urteil zur Arbeitszeit­erfassung – Kommt die Rückkehr zur Stechuhr?

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Der Betrieb

Der EuGH hat am 14.05.2019 entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Die Entscheidung hat für enorme Aufmerksamkeit in den Medien gesorgt und eine heftige Diskussion über die Umsetzungserfordernisse unter Fachexperten aus­gelöst. Erste Fragen zu den Auswirkungen der EuGH-Entscheidung beantwortet RA/FAArbR Thomas Niklas, Partner bei Küttner Rechtsanwälte, im Interview.

DB: Wie das Medienecho zeigt, hat die Entscheidung große Auswirkungen auf die heutige Arbeitswelt. Ab wann gelten diese doch erheblichen praktischen Auswirkungen der Entscheidung in Deutschland?

Niklas: Mit seinem Urteil hat der EuGH festgestellt, dass die Arbeitszeitrichtlinien im Lichte von Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtcharta einer Regelung entgegenstehen, die nach ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte die Arbeitgeber nicht verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Auch § 16 Abs. 2 ArbZG verstößt danach gegen die vorgenannten europarechtlichen Vorgaben. Denn nach § 16 Abs. 2 ArbZG ist der Arbeitgeber in Deutschland „nur“ verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 ArbZG (= acht Stunden) hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Zwar enthält die Entscheidung des EuGH primär eine Handlungsanweisung an die Mitgliedstaaten. § 16 Abs. 2 ArbZG wird man aber schon vor einem entsprechenden Tätigwerden der Mitgliedstaaten europarechtskonform auslegen müssen, was bedeutet, dass die Arbeitszeit nunmehr von Beginn an aufzuzeichnen ist. Die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB (Nichtberücksichtigung von Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr) hat im Übrigen eindrucksvoll gezeigt, dass der Gesetzgeber mitunter Jahre benötigt, um eine europarechtswidrige Vorschrift zu korrigieren.

DB: Kann der Arbeitgeber die Verpflichtung zur Aufzeichnung z.B. auch weiterhin auf den Arbeitnehmer delegieren?

Niklas: Solche Detailfragen wurden durch das Urteil vom 14.05.2019 (noch) nicht entschieden, da lediglich die Vor­lagefrage Gegenstand der Entscheidung war. Aus meiner Sicht ist eine Delegation der – nunmehr generellen – Aufzeichnungspflicht der Arbeitszeit an die Arbeitnehmer aber auch weiterhin möglich. Entscheidend ist, dass der Arbeitgeber ein objektives, verlässliches und zugängliches System einrichtet, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Diese Verpflichtung steht einer Delegation nicht entgegen. Auch der Sinn und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie – namentlich der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer und die Sicherheit am Arbeitsplatz – steht dem nicht entgegen. Hierbei ist jedoch – wie schon bislang – zu beachten, dass der Arbeitgeber auch im Falle einer solchen Delegation dafür verantwortlich bleibt, dass die arbeitszeitrechtlichen Vorgaben eingehalten werden. Dies beinhaltet insbesondere die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Einhaltung der delegierten Pflichten regelmäßig zu kontrollieren. Dieser Kontrolle wird man künftig mehr Beachtung schenken
müssen als bislang.

DB: Was bedeutet die Entscheidung nun für weit verbreitete Modelle der Vertrauensarbeitszeit? Und lässt der EuGH auch Ausnahmen zu – etwa im Hinblick auf mobile Arbeitnehmer (Vertriebsmitarbeiter etc.)?

Niklas: Das Urteil des EuGH enthält leider nur wenig aus­sagekräftige Feststellungen zur Art und Weise der Umsetzung. Notwendig ist, „ein objektives, verlässliches und zugäng­liches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Im Übrigen wird es den Mitgliedstaaten überlassen, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere der von ihnen anzunehmenden Form, zu bestimmen. Hierbei kann jedoch den „Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder Eigenheiten, sogar der Größe, bestimmter Unternehmen Rechnung“ getragen werden. Ob die weit verbreiteten Modelle der Vertrauensarbeitszeit ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ darstellen, mit denen die Arbeitszeit objektiv gemessen werden kann, wird künftig sicherlich die Gerichte beschäftigen. Gerade das Beispiel der mobilen Arbeitnehmer zeigt jedoch, dass die für die Vertrauensarbeitszeit regelmäßig charakteristische Selbstaufschreibung oftmals das einzige Mittel ist, um die tägliche Arbeitszeit zu erfassen. Und nach meiner Auffassung ist sie auch ein verlässliches und zugängliches Mittel zur Messung der Arbeitszeit. Der hiergegen zum Teil geltend gemachte Einwand, dass solche Modelle manipulierbar seien, verfängt meines Erachtens nicht. Denn dies gilt schlussendlich für alle Arbeitszeiterfassungssysteme – ob digital oder analog.

DB: Der IT-Branchenverband Bitkom befürchtet, dass Arbeitgeber ins Unrecht gesetzt werden. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände spricht gar von einem Rückfall zur Arbeitserfassung 1.0. Droht nun wirklich die Rückkehr zur Stechuhr?

Niklas: Dies sehe ich deutlich entspannter. Zwar besteht für den deutschen Gesetzgeber – entgegen der Auffassung des Bundeswirtschaftsministers Altmaier – Handlungsbedarf. Der EuGH hat jedoch ausdrücklich auf die Spielräume der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung und die konkreten Modalitäten einer Aufzeichnungspflicht hingewiesen. Ich hoffe, dass der deutsche Gesetzgeber diese Spielräume nutzen wird. Dann kann sich die Entscheidung des EuGH sogar als Chance erweisen, das Arbeitszeitrecht insgesamt zu reformieren und an die Anforderungen der modernen Arbeitswelt anzupassen. Eine „Rückkehr zur Stechuhr“, wie sie nun vielfach – und medienwirksam – befürchtet wird, sehe ich jedenfalls nicht, zumindest besteht nach dem Urteil des EuGH hierzu keine Verpflichtung.

DB: Apropos Rückkehr zur Stechuhr: Viele Unternehmen werden nun getroffene Vereinbarungen mit dem Betriebsrat zur Arbeitszeiterfassung wieder aufschnüren müssen. Welche Mitbestimmungsrechte bestehen genau?

Niklas: Die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei der Einführung und Ausgestaltung von Arbeitszeitsystemen sind sehr weitgehend. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber ein digitales Zeiterfassungssystem implementieren möchte. Wenngleich der Betriebsrat hierfür bislang kein Initiativrecht hat, ist er gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG im Hinblick auf die Ausgestaltung umfassend zu beteiligen. Zu beachten ist jedoch, dass Mitbestimmungsrechte nur soweit gelten, als die jeweiligen Punkte nicht bereits durch die gesetzlichen Vorgaben geregelt sind und ein Ausgestaltungsspielraum verbleibt. Insoweit bleibt abzuwarten, wie der deutsche Gesetz­geber die Vorgaben des EuGH nunmehr umsetzt.

DB: Vielen Dank für das Interview, Herr Niklas!

Das Interview führte Claus Dettki, Redaktion DER BETRIEB.


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