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23.05.2022

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EuGH-Generalanwalt sieht Sitzgarantie der Gewerkschaften bei SE-Formwechsel geschützt

Laut einer Pressemitteilung des Gerichtshofs der Europäischen Union hat der Generalanwalt Jean Richard de la Tour in seinen Schlussanträgen vom 28.4.2022 vorgeschlagen, das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts (Beschluss vom 18.08.2020 - 1 ABR 43/18 (A)) damit zu beantworten, dass bei der Umwandlung einer ursprünglich dem deutschen Mitbestimmungsgesetz unterfallenden deutschen Aktiengesellschaft in die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE = Societas Europaea) der gesonderte Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat zwingend sei. Auch eine für die Rechtsform der SE typische Beteiligungsvereinbarung zwischen Management und besonderem Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer könne von diesem Prinzip nicht abweichen.

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RAin Dr. Alice Jenner
ist Counsel bei Freshfields Bruckhaus Deringer LLP in Düsseldorf

Hintergrund ist das von den Gewerkschaften ver.di und IG Metall angestrengte gerichtliche Verfahren vor den deutschen Arbeitsgerichten gegen SAP im Zusammenhang mit der in 2014 erfolgten Umwandlung des Unternehmens von einer deutschen Aktiengesellschaft in eine SE.

Unternehmensmitbestimmung in der SE

Die Rechtsform der SE ist im Wesentlichen durch europäisches Recht geprägt, welches für die Unternehmensmitbestimmung in einer EU-Richtlinie den Vorrang der sogenannten Verhandlungslösung statuiert. Das bedeutet, dass die Besetzung des Aufsichtsrats mit Arbeitnehmervertretern sowie die Art und nähere Ausgestaltung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat durch eine sogenannte SE-Beteiligungsvereinbarung unternehmensspezifisch ausgehandelt werden soll. Dahinter steht eine sogenannte gesetzliche Auffangregelung für den Fall, dass sich die Parteien nicht einigen können. Die Verhandlungen werden arbeitnehmerseitig durch ein speziell zu bildendes besonderes Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer geführt, welches international entsprechend der Belegschaftsstärke der Gruppe in den EU/EWR-Staaten aus speziell für diesen Zweck gewählten Vertretern der Arbeitnehmer zusammengesetzt ist. Die Verhandlungen erfolgen dabei im Schatten der gesetzlichen Auffangregelung. Letztere bestimmten, dass gemäß dem sog. Vorher-Nachher-Prinzip der höchste Arbeitnehmervertreteranteil im Aufsichtsrat der Gründungsgesellschaft(en) auch in der SE aufrechterhalten werden muss. Die Auffangregelung sieht dabei anders als das deutsche Mitbestimmungsgesetz eine Internationalisierung der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat vor, indem die Arbeitnehmervertretersitze auf die Belegschaften in den EU/EWR-Staaten entsprechend den jeweiligen Anteilen der in den einzelnen Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmer zu verteilen sind.

Vorabentscheidungsersuchen des BAG (Beschl. v. 18.08.2020, Az. 1 ABR 43/18 (A))

SAP war bis zu der Umwandlung in eine SE in 2014 in der Rechtsform einer deutschen Aktiengesellschaft organisiert, die aufgrund ihrer Belegschaftsgröße dem deutschen Mitbestimmungsgesetz unterfiel. Danach hatte SAP zuletzt bis zum Zeitpunkt der Umwandlung einen 16-köpfigen Aufsichtsrat, der sich zur Hälfte aus Arbeitnehmervertretern zusammensetzte, von denen zwei Sitze auf separat gewählte Vertreter von Gewerkschaften entfielen. Im Zuge der Umwandlung in eine SE wurde mit dem damals gebildeten Verhandlungsgremium eine SE-Beteiligungsvereinbarung getroffen, wonach der zunächst 18-köpfige Aufsichtsrat mit neun  Arbeitnehmervertretern zu besetzen war und den im Konzern repräsentierten Gewerkschaften für einen bestimmten Teil der auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter ein ausschließliches Vorschlagsrecht zustand und deren Wahl in einem getrennten Wahlgang zu erfolgen hatte. Die Beteiligungsvereinbarung enthielt aber auch Regelungen für die Bildung eines auf zwölf Mitglieder verkleinerten Aufsichtsrats. Danach muss der Aufsichtsrat weiterhin zur Hälfte aus Arbeitnehmervertretern bestehen, ihm müssen also sechs Arbeitnehmervertreter angehören. Die auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertretersitze werden dabei laut der Vereinbarung von den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern gewählt und die im Konzern vertretenen Gewerkschaften können Wahlvorschläge für einen Teil der auf Deutschland entfallenden Sitze machen; ein getrennter Wahlgang für die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Personen war aber für den auf zwölf Mitglieder verkleinerten Aufsichtsrat nicht mehr in der Beteiligungsvereinbarung vorgesehen. Hieran entzündete sich der Rechtsstreit. Die im Konzern vertretenen Gewerkschaften ver.di und iG Metall machten vor den deutschen Arbeitsgerichten geltend, die Regelungen in der SE-Beteiligungsvereinbarung über die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat seien unwirksam. Dies wurde auf eine – deutsche und weitgehend inhaltsgleiche europäische – Norm gestützt, die für den Fall der formwechselnden Umwandlung in eine SE vorgibt, dass auch eine Beteiligungsvereinbarung mit dem besonderen Verhandlungsgremium in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleisten werden muss, das vor der Umwandlung in eine SE bestand. Dieser Bestandsschutz, der selbst durch eine Vereinbarung nicht durchbrochen werden kann, bezieht sich anerkanntermaßen klar auf die Aufrechterhaltung des Arbeitnehmervertreteranteils, also die paritätische Besetzung des Aufsichtsrates mit Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern auch nach der Umwandlung in die SE, wenn die Gesellschaft vorher dem Mitbestimmungsgesetz unterlag. Dreh- und Angelpunkt war aber die Frage, ob die gewerkschaftliche Sitzgarantie mit gesondertem Wahlgang ebenfalls zu den geschützten Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung gehört, von der nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. Während die Vorinstanzen (Arbeitsgericht Mannheim und das LAG Baden-Württemberg) das Ansinnen der Gewerkschaften ablehnten, sah das Bundesarbeitsgericht dies anders und war der Ansicht, dass bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer in Deutschland ansässigen Aktiengesellschaft die Parteien der Beteiligungsvereinbarung sicherstellen müssen, dass die prägenden verfahrensrechtlichen Elemente zur Beteiligung der Arbeitnehmer auch in der SE in qualitativ gleichwertigem Maß erhalten bleiben müssen. Das Bundesarbeitsgericht wollte diese Auslegung jedoch durch den Europäischen Gerichtshof bestätigt wissen, da die Entscheidung von  Unionsrecht abhänge. Das BAG hatte daher im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens den EuGH angerufen und wollte von diesem wissen, ob das Erfordernis eines gesonderten Wahlgangs für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder mit der zugrunde liegenden EU-Richtlinie vereinbar sei.

Schlussanträge des EuGH-Generalanwalts

In seinen Schlussanträgen vom 28. April 2022 hat der Generalanwalt des EuGH, Jean Richard de la Tour, dem EuGH vorgeschlagen, im Ergebnis die Einschätzung des Bundesarbeitsgericht zu bestätigen. Auch nach seiner Interpretation des Unionsrechts dürfe die Verhandlungsautonomie des besonderen Verhandlungsgremiums der Arbeitnehmer die Durchführung eines getrennten Wahlgangs für die Wahl eines bestimmten, von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Teils der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nicht beeinträchtigen, wenn – wie im deutschen Mitbestimmungsrecht – eine solche zwingende Besonderheit für die umzuwandelnde Gesellschaft nach nationalem Recht existiert. Was Deutschland und somit den Fall der SAP SE betrifft, ist nach seiner Auffassung der gesonderte Wahlgang für die Gewerkschaftsvertreter unbestreitbar ein prägendes Element, von dem auch durch eine Beteiligungsvereinbarung nicht abgewichen werden könne. Die Schlussanträge sind für den Europäischen Gerichtshof nicht bindend. Allerdings folgt der EuGH in der Praxis regelmäßig in seinen Urteilen den Schlussanträgen der Generalanwälte. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH auch hierbei dem Urteil des Generalanwalts folgt. Der von dem Generalanwalt vorgeschlagene Bestandsschutz für die mitbestimmungsrechtlichen Besonderheiten des deutschen Rechts ist aus unionsrechtlicher Sicht nicht zweifelsfrei. Denn der Bestandsschutz für nationale verfahrensrechtliche Besonderheiten geht auf Kosten des vom Unionsrecht für die SE als Primat vorgesehenen europäischen Mitbestimmungsmodells einer verhandelten Mitbestimmung.

Konsequenzen für die Praxis

Wenn der EuGH den Empfehlungen seines Generalanwalts folgt, ist deutschen SEs, die durch Umwandlung einer zuvor paritätisch mitbestimmen AG entstanden sind, anzuraten, ihre Beteiligungsvereinbarungen zu überprüfen. Zudem dürfte sich in Zukunft abzeichnen, dass größere deutsche Unternehmen den Weg in die SE über andere Gründungsarten als die formwechselnde Umwandlung beschreiten, bei denen die Vereinbarungsfreiheit nicht in gleicher Weise wie bei der formwechselnden Umwandlung eingeschränkt ist. Überdies würde sich die Entscheidung des EuGH praktisch nicht nur auf SE-Umwandlungen durch Formwechsel auswirken sondern auch auf grenzüberschreitende Formwechsel und Spaltungen nach der sog. Umwandlungs-Richtlinie (EU) 2019/2121 (zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Gesellschaftsrechtsrichtlinie)), die bis zum 31. Januar 2023 in nationales Recht umsetzen ist und die für grenzüberschreitende Formwechsel und Spaltungen den strengen Bestandsschutz für SE-Umwandlungen durch Formwechsel übernimmt. 


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Anja Renz


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