Worum geht es?
SAP hatte sich 2014 von einer deutschen Aktiengesellschaft (AG) in eine SE umgewandelt. Als deutsche AG unterlag SAP den Regelungen des deutschen Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG). Danach gehörten dem Aufsichtsrat sechzehn Mitglieder an, darunter acht Arbeitnehmervertreter. Unter den Arbeitnehmervertretern befanden sich wiederum zwei Mitglieder, die von den im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem getrennten Wahlgang gewählt wurden. Seit der Umwandlung in eine SE richtete sich die Mitbestimmung im Aufsichtsrat von SAP nach einer Beteiligungsvereinbarung (§ 21 SEBG), die zwischen Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertretern im Zuge der Umwandlung ausgehandelt worden war. Nach der Beteiligungsvereinbarung bestand der Aufsichtsrat anfänglich aus achtzehn Mitgliedern, davon neun Arbeitnehmervertreter. Von den Arbeitnehmervertretern wurde ein Teil ausschließlich von den im Konzern vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem getrennten Wahlgang gewählt. Nach der SAP-Beteiligungsvereinbarung kann der Aufsichtsrat auf zwölf Mitglieder verkleinert werden, von denen weiter die Hälfte Arbeitnehmervertreter sind. In dem verkleinerten Aufsichtsrat haben die im Konzern vertretenen Gewerkschaften jedoch kein ausschließliches Vorschlagsrecht mehr und auch der getrennte Wahlgang entfällt. Im Jahr 2016 wurde bekannt, dass SAP beabsichtigte, den Aufsichtsrat auf zwölf Mitglieder zu verkleinern. IG Metall und ver.di fochten die SAP-Beteiligungsvereinbarung daraufhin gerichtlich an. Zentrale Frage des Rechtsstreits: Muss der getrennte Wahlgang für die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat in einer SE zwingend beibehalten werden, wenn diese SE im Wege der Umwandlung aus einer deutschen AG hervorgeht, die im Zeitpunkt der Umwandlung dem MitbestG unterlag.
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
In der Rechtssache SAP erklärt der Europäische Gerichtshof das getrennte Wahlverfahren zu einem zwingenden Element der Mitbestimmung, das im Fall der Umwandlung einer deutschen AG in eine SE beibehalten werden muss. Zur Begründung verweisen die Richter auf den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen des EU-Rechts, auf deren Systematik, ihren Zweck und nicht zuletzt auf die Entstehungsgeschichte: In dem mehr als vierzigjährigen Ringen um die Rechtsform der SE sei die Mitbestimmung einer der Hauptstreitpunkte gewesen. Der europäische Gesetzgeber habe einer Flucht aus der Mitbestimmung mittels der Rechtsform SE entgegenwirken wollen. Diese Gefahr habe der europäische Gesetzgeber im Fall der Gründung einer SE durch Umwandlung als besonders gravierend eingeschätzt und ihr durch besonders strenge Regelungen zur Mitbestimmungsbeibehaltung vorgebeugt. Deshalb sei bei der Umwandlung einer deutschen AG, die dem MitbestG unterliegt, in eine SE auch das Vorschlagsrecht der im Konzern vertretenen Gewerkschaften einschließlich des getrennten Wahlgangs zwingend beizubehalten. Die Richter aus Luxemburg hätten es dabei belassen können. Doch das haben sie nicht. Zum landmark case wird die SAP-Entscheidung durch die weiteren Ausführungen, die noch für erhebliche Diskussionen sorgen werden. In der Entscheidung heißt es weiter, dass die Mitbestimmungsrechte, die bei der Umwandlung einer deutschen AG in eine SE aufrechterhalten bleiben, auf sämtliche Arbeitnehmer der SE auszuweiten sind. Gemeint sind damit vor allem die nicht in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer. Sie haben nach dem im deutschen Mitbestimmungsrecht geltenden Territorialitätsprinzip weder das aktive noch das passive Wahlrecht zum Aufsichtsrat. Das ist nach der TUI-Entscheidung des EuGH (Aktenzeichen C-566/15) europarechtlich zulässig. In der TUI-Entscheidung ging es um die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber das aktive oder passive Wahlrecht aufgrund der Vorgaben des EU-Rechts auch den im EU-Ausland beschäftigten Arbeitnehmern einräumen muss, was der EuGH verneinte. Im SAP-Verfahren ging es um die Frage, ob Mitbestimmungsrechte, die nach deutschem Mitbestimmungsrecht bestanden, infolge der Umwandlung der nach dem MitbestG mitbestimmten AG in eine SE aufgrund des EU-Rechts in das Ausland exportiert werden, ihnen also das aktive und passive Wahlrecht zum Aufsichtsrat zusteht. Diese Frage bejaht der Gerichtshof. Dabei bezieht er ausdrücklich auch die in ausländischen Tochtergesellschaften und Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer ein. Doch damit nicht genug: Auch den im Ausland aktiven Gewerkschaften, einschließlich der in ausländischen Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften, billigt der EuGH die gleichen Recht zu wie den deutschen Gewerkschaften:
„Das Recht, einen bestimmten Anteil der Kandidaten für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat einer durch Umwandlung gegründeten SE vorzuschlagen, [darf] nicht nur den deutschen Gewerkschaften vorbehalten sein, sondern muss auf alle in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften ausgeweitet werden, so dass die Gleichheit dieser Gewerkschaften in Bezug auf dieses Recht gewährleistet ist.“
Ausländische Gewerkschaften konkurrieren somit künftig mit den deutschen Gewerkschaften um die Besetzung von Aufsichtsratsmandaten in Europäischen Aktiengesellschaften. Für die IG Metall und ver.di dürfte sich die SAP-Entscheidung damit letztlich als Pyrrhussieg erweisen. Unter Corporate Governance-Gesichtspunkten ist die Internationalisierung der deutschen Aufsichtsräte dagegen zu begrüßen: Die Repräsentation der Belegschaft wird verbessert, der Wettbewerb um die wenigen zur Verfügung stehenden Plätze intensiviert, die Entscheidungsgrundlage des Gremiums verbreitert.
Folgen und Ausblick
Das Urteil ist wegweisend für das deutsche und europäische Mitbestimmungsrecht. Bestehende SE müssen ihre Beteiligungsvereinbarungen dahingehend überprüfen, ob sie die Voraussetzungen des Urteils erfüllen. Insbesondere müssen sie inländischen und ausländischen Arbeitnehmern und Gewerkschaften jeweils die gleichen Rechte einräumen und vorsehen, dass die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten in einem gesonderten Wahlgang gewählt werden. Führt die Überprüfung zu dem Ergebnis, dass eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt ist, ist die Beteiligungsvereinbarung möglicherweise teilweise unwirksam und anzupassen. Für die künftige Beratungspraxis verliert der Weg der SE-Gründung durch Umwandlung, der bislang als besonders einfach umsetzbar galt, gegenüber den anderen Wegen der SE-Gründung an Attraktivität. Vorzugswürdig könnte künftig insbesondere die SE-Gründung durch grenzüberschreitende Verschmelzung sein (so etwa praktiziert bei der Gründung der Allianz SE), die weniger strengen Vorgaben hinsichtlich der Mitbestimmungsbeibehaltung unterliegt. Auch ist die EuGH-Entscheidung bei anderen Formen grenzüberschreitender Umstrukturierungen (Formwechsel, Spaltung und Verschmelzung) zu berücksichtigen, weil die Mitbestimmung dort jeweils in Anlehnung an das Recht der SE geregelt ist. Schließlich muss das Urteil bei der künftigen Gestaltung von Beteiligungsvereinbarungen berücksichtigt werden. Auf politischer Ebene könnte das Judiz die Debatte um die Mitbestimmung bei der SE und in anderen grenzüberschreitenden Umstrukturierungen neu entfachen. Denn es dauerte auch deshalb mehr als vier Dekaden bis zur Einführung der SE, weil andere Mitgliedstaaten sich vehement gegen eine Übernahme der deutschen Mitbestimmungsregeln wehrten. Indem der EuGH die deutschen Regeln nun in das Ausland exportiert, entzieht er diesem politischen Kompromiss zumindest teilweise den Boden. Zudem muss Deutschland damit rechnen, künftig im Inland mit den Mitbestimmungsregeln anderer Mitgliedstaaten konfrontiert zu werden, wenn die SE-Konzernobergesellschaft ihren Sitz im Ausland hat: Die durch den EuGH formulierten Regeln gelten nicht nur für SE mit Sitz in Deutschland und das deutsche Mitbestimmungsrecht, sondern genauso für SE mit Sitz in anderen EU-Staaten und das dort geltende Mitbestimmungsrecht. Auf diesem Boden wechselseitiger Beeinflussung der Mitgliedstaaten könnte langfristig ein europäisches Mitbestimmungsrecht erwachsen.