Sachverhalt
Der Kläger wurde in China geboren und ist verheiratet. Das gemeinsame Kind wurde in Deutschland geboren. Die Ehefrau ist zudem Mutter eines Kindes aus erster Ehe. Kläger und Ehefrau sind deutsche Staatsangehörige. Der Kläger hat einen deutschen und einen chinesischen Führerschein. In China wurde ihm erst ein Touristenvisum, dann eine Aufenthaltserlaubnis und später eine Arbeitserlaubnis erteilt. Gemeinsam mit der Ehefrau wurde in den Streitjahren ein Haus (Grundstücksfläche 1.703 qm, Wohnfläche 801 qm) erbaut und bezogen. Während einer Durchsuchung des Objektes räumte der abwesende Kläger telefonisch ein, dass ihm das Objekt jederzeit zur Verfügung stehe. Auf dem Anwesen parkte ein vom Kläger genutzter Pkw. Der Kläger verfügte in dem Haus über ein Ankleidezimmer samt persönlicher Kleidung sowie einen mit Barmitteln bestückten Tresor. Es wurde ein Laptop sichergestellt, auf dessen Speicher sich Bilder von Familienfeiern und sonstigen Feiern befanden. Die befragte Haushälterin gab an, dass der Kläger mehrmals pro Jahr in Deutschland gewesen sei und regelmäßig in dem Haus lebe. In dem Haus habe sich die Ehefrau des Klägers abgesehen von Urlaubstagen zu jeder Zeit aufgehalten. Der Kläger war darüber hinaus über die Konten zweier inländischer GmbHs verfügungsberechtigt und unterhielt Geschäftsbeziehungen zu einer inländischen Bank. Bei der Überprüfung der Kreditkartenabrechnungen wurde festgestellt, dass der Kläger im Inland regelmäßig Einkäufe in Supermärkten vorgenommen sowie zahlreiche Restaurants besucht hatte.
Bereits im September 2007 erwarben der Kläger und seine Ehefrau in China eine Immobilie zu jeweils hälftigem Miteigentum. Die Immobilie hat eine Wohnfläche von 939,14 qm und ist damit flächenmäßig größer als das Haus in Deutschland. In China verfügt der Kläger zudem ebenso wie in Deutschland über einen beachtlichen Fuhrpark. Er ist Inhaber verschiedener Unternehmen mit ca. 320 Arbeitnehmern in China und drei bis vier Arbeitnehmern in Deutschland. Insgesamt hat er in China und Taiwan zehn Firmen. Zu seinen Einkünften gibt der Kläger insoweit an, dass er sich in den Streitjahren „nur wenig Geschäftsführergehalt ausgezahlt“ hat. Vielmehr habe er „überwiegend von … (den) Gewinnausschüttungen (der chinesischen Firmen) gelebt“.
Der Kläger trug im Wesentlichen vor, er sei im Jahr 2008 aus Deutschland ins Ausland weggezogen. Von seiner Ehefrau und seiner Familie lebe er seit 2006 getrennt. Das Haus in Deutschland sei lediglich ein „Gebäude für die Ehefrau“ und ein „Rückzugsort im Falle einer Krise der Politik in China“. Sein Wohnsitz befinde sich ausschließlich in China, „da er dort lebe, arbeite, seine Familie und Freunde empfange, seine persönlichen Dinge aufbewahre und von dort seit 2007 seine Firmen leite“. Er habe, wenn er sich geschäftlich in Deutschland aufgehalten habe, oftmals nicht im Hotel übernachtet, sondern aus Kostengesichtspunkten „an seinem ehemaligen Wohnsitz“. In den Ferienzeiten, wie z.B. Weihnachten, dem chinesischen Neujahrsfest, Silvester und Ostern habe der Kläger seine Familie stets in China empfangen und sei nicht nach Deutschland gekommen. Familie, Freunde und Bekannte haben in der Villa in China regelmäßig Grillfeste und Partys veranstaltet. Steuerlich bescheinigte die chinesische Finanzverwaltung dem Kläger ein „Chinese fiscal residente“ zu sein.
Problemaufriss
Das FG Baden-Württemberg musste klären, ob die unbeschränkte Steuerpflicht des Klägers aufgrund einer Aufgabe des inländischen Wohnsitzes beendet wurde und, falls dies nicht der Fall ist, in welchem Land sich die abkommensrechtliche Ansässigkeit befindet. Die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte – wirtschaftlicher, persönlicher und tatsächlicher Natur – zu China und Deutschland erforderten eine umfangreiche Abwägung.
Entscheidung des FG Baden-Württemberg
1. Wohnsitz
Das FG Baden-Württemberg kommt zu der Auffassung, dass der Kläger stets einen Wohnsitz im Inland hatte und demnach in den Streitjahren unbeschränkt steuerpflichtig war. Kennzeichnend für einen Wohnsitz im Inland ist eine zum dauerhaften Wohnen geeignete Räumlichkeit, die der Steuerpflichtige jederzeit nutzen kann, wobei keine Mindestverweildauer vorgesehen ist. Entscheidend ist die sog. Schlüsselgewalt, welche der Kläger nach Auffassung des Gerichts zweifellos innehatte. Dem Kläger stand durch die Miteigentümerstellung ein Nutzungsrecht zu, welches nicht durch Absprachen beschränkt war. Dabei hinaus waren die Gestaltung und Ausstattung der Räumlichkeiten auf den Kläger zugeschnitten und ging über eine einfache Schlafgelegenheit weit hinaus.
Ist ein Familienwohnsitz vorhanden, so gilt es für jede Person gesondert zu ermitteln, ob der Familienwohnsitz auch einen steuerlichen Wohnsitz darstellt. Grundsätzlich gilt bei nicht getrenntlebenden Ehegatten der Ort als Wohnsitz, an dem die Familie lebt. Unerheblich ist, ob die Ehegatten räumlich distanziert sind, z.B. weil sich ein Ehegatte primär im Ausland aufhält. Entgegen der Ansicht des Klägers lebte dieser nach Auffassung des Senats auch nicht von seiner Ehefrau getrennt. Vielmehr lebten der Kläger und dessen Ehefrau nach einer Gesamtschau in häuslicher Gemeinschaft, welche selbst bei getrennten Wohnungen bestehen kann. Dass die Eheleute das Haus betreffende Angelegenheiten gemeinschaftlich regelten, wichtige Feste und Anlässe mit den Kindern gemeinsam verbrachten und die Eheleute auch beruflich eng zusammenarbeiteten, ist Anzeichen für den Bestand einer bestehenden häuslichen Gemeinschaft. Auch finanziell bestand eine gegenseitige Verfügungsbefugnis für das Privatkonto des Ehepartners. Dies entspricht nicht „der Lebenswirklichkeit“ eines getrennt lebenden Paares.
Die Ausführungen des Klägers hinsichtlich seines Anwesens in China, welches größer ist und ebenso gut auf ihn zugeschnitten, vermochten den Senat nicht anderweitig zu überzeugen. Dass der Kläger auch in China einen Rückzugsort habe, zu dem eine Bindung bestehe, ist unschädlich. Ein Steuerpflichtiger kann mehrere Wohnungen und Wohnsitze gleichzeitig haben. Die reine Begründung eines Wohnsitzes im Ausland führt nicht dazu, dass der Wohnsitz im Inland seine Qualität als solchen verliert. Vielmehr muss dieser bewusst aufgegeben werden.
2. Abkommensrechtliche Ansässigkeit
a) Unbeschränkte Steuerpflicht in China
Da der Kläger einen Wohnsitz in Deutschland hat und damit der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegt, ist er auch nach Art. 4 Abs. 1 DBA-China im Inland ansässig. Fraglich war, ob darüber hinaus eine Ansässigkeit in China vorliegt, mit der Folge, dass die Tie-Breaker-Rule (Art. 4 Abs. 2 DBA-China) zu prüfen wäre. Eine abkommensrechtliche Ansässigkeit ist anhand ortsbezogener Merkmale zu prüfen und nicht abkommensautonom geregelt (Art. 4 Abs. 1 Satz 1 DBA-China). Ausgehend von den Ermittlungen zum ausländischen Recht durch das FG Baden-Württemberg hätte der Kläger nach chinesischen Steuerregeln dauerhaft in China wohnhaft sein oder sich mindestens fünf Jahre ohne relevante Unterbrechungen in China aufhalten müssen. Auf Basis der Aufenthaltstage sieht der Senat diese Anforderungen als nicht erfüllt und kommt zu dem Ergebnis, dass der Kläger keiner persönlichen unbeschränkten Steuerpflicht in China unterliegt. Die von den chinesischen Steuerbehörden ausgestellte Ansässigkeitsbescheinigung hat für Deutschland keine Bindungswirkung. Der Kläger gilt ausschließlich als in Deutschland ansässig. Auf eine ständige Wohnstätte oder den sog. Mittelpunkt der Lebensinteressen kommt es nicht an.
b) Ständige Wohnstätte und Ermittlung des Mittelpunktes der Lebensinteressen
Ergänzend führt der Senat aus, dass der Kläger selbst im Falle einer unterstellten unbeschränkten Steuerpflicht in China trotzdem als eine in Deutschland ansässige Person gelten würde. Der Kläger hat sowohl in China als auch in Deutschland Räumlichkeiten, die er zum ständigen Wohnen jederzeit nutzen kann und will, mithin eine ständige Wohnstätte (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a DBA-China). Erheblich ist schließlich, wo sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen befindet. Ausschlaggebendes Kriterium stellt insbesondere die enge Verbundenheit des Klägers zu seiner Ehefrau und seinem Sohn dar, welche den Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Dass daneben auch familiäre Beziehungen in China vorliegen, erzeugt keine gleichwertige persönliche Bindung. Auch mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten, insbesondere der Bedeutung der Unternehmen des Klägers in China und Deutschland, setzt sich der Senat auseinander und kann kein Überwiegen der wirtschaftlichen Bindungen nach China feststellen. Die umfangreiche Abwägung verschiedenster Bindungen des Klägers begründet die Annahme, den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klägers in Deutschland zu sehen.
Einordnung der Entscheidung
1. Wohnsitz
Die Einstufung der Villa in Deutschland als steuerlicher Wohnsitz kann vor dem Hintergrund des geschilderten Sachverhalts nicht überraschen. Die Entscheidung zeigt deutlich, welches Sammelsurium an Möglichkeit den Finanzbehörden zwischenzeitlich zur Verfügung steht, um den Sachverhalt zu ermitteln. Im vorliegenden Fall wurde das Objekt observiert, durchsucht, Kontoauszüge ausgewertet und Einträge der Meldebehörden sowie der BaFin einbezogen. Für die Praxis ist festzuhalten, dass ein Wegzug aus Deutschland „wenn, dann auch richtig und vollständig“ erfolgen muss. Die Entscheidung steht in einer Reihe auch älterer, aber öffentlich wirksamer Beispiele (z.B. Boris Becker und Nadja Auermann), die zeigen, dass die Finanzbehörden ein weites Verständnis eines deutschen Wohnsitzes haben. Jüngstes Beispiel hierfür ist Alischer Usmanow, welchem, nach vielfältiger aktueller Berichterstattung, durch ein am Tegernsee befindliches Haus ein Wohnsitz in Deutschland vermittelt wird. Bei unklaren Sachverhalten (z.B. geerbtes Elternhaus in Deutschland oder Nutzung einer Immobilie als Ferienwohnung) sollten die Gegebenheiten mit dem steuerlichen Berater aufgearbeitet und die weitere Vorgehensweise besprochen werden.
2. Abkommensrechtliche Ansässigkeit
Die Entscheidung des FG Baden-Württemberg macht deutlich, dass die Rechtsanwender sich in Mehrländerkonstellationen mit dem ausländischen Recht beschäftigen müssen. Der Anwendungsbereich eines Doppelbesteuerungsabkommens ist nur dann eröffnet, wenn die Person in einem oder in beiden Vertragsstaaten ansässig ist. Vorliegend ist das FG Baden-Württemberg zu der Einschätzung gekommen, dass keine unbeschränkte Steuerpflicht in China vorgelegen hat. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass jedes Land unterschiedliche Kriterien an eine unbeschränkte Steuerpflicht anlegt. Sobald eine (persönliche) unbeschränkte Steuerpflicht dem Grunde nach besteht, steht es dem ausländischen Staat frei, zu entscheiden, in welcher Art und in welchem Umfang (sachlich) dieses Besteuerungsrecht ausübt wird. Ob nationale Präferenzregime bestehen, wie z.B. die relativ neu eingeführte Pauschalbesteuerung in Italien für bestimmte Einkünfte, hat keine Auswirkungen auf die Abkommensberechtigung. Eine umfassende persönliche Steuerpflicht besteht i.d.R. unabhängig von solchen speziellen Steuererleichterungen. Soweit Deutschland einen Wegzug in ein Land mit einem Präferenzregime unattraktiv gestalten möchte, erfordert dies eine Anpassung des DBA. Als Beispiel hierfür lässt sich Spanien anführen: So existiert in Spanien eine Option für Steuerpflichtige, nach denen diese für einen gewissen Zeitraum als „Nichtansässige“ besteuert werden können („Beckham-Law“). Die Inanspruchnahme dieser Option erfordert jedoch gerade die persönliche unbeschränkte Steuerpflicht in Spanien. Zur Vermeidung einer abkommensrechtlichen Ansässigkeit von betroffenen Personen in Spanien wurde folglich in das Protokoll zum DBA eine entsprechende Sonderregelung aufgenommen.
Fazit
Die Entscheidung des FG Baden-Württemberg zeigt, dass an die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes hohe Anforderungen gestellt werden und diese nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Dies gilt auch für vermeintlich eindeutige Fälle, in denen z.B. nur eine Ferienwohnung oder eine ansonsten leerstehende geerbte Immobilie in Deutschland existiert. Die Finanzbehörden verfügen über die notwendigen Instrumente zur Sachverhaltsermittlung. Ohne rechtsichere Klärung schwebt über betroffenen Steuerpflichtigen, neben möglichen strafrechtlichen Konsequenzen, immer auch das Damoklesschwert einer unerkannten unbeschränkten Steuerpflicht mit den daran anknüpfenden Konsequenzen. Gerade im Bereich der Erbschaft- und Schenkungsteuer kann dies zu einem späten aber bösen Erwachen führen.
Für Zwecke der Bestimmung der abkommensrechtlichen Ansässigkeit ist zu konstatieren, dass der Ermittlung der persönlichen Steuerpflicht im ausländischen Staat unter Zugrundelegung der ausländischen Rechtsnormen die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Sollte eine doppelte Ansässigkeit vorliegen und die Bestimmung des Mittelpunktes der Lebensinteressen notwendig sein, ist in der Praxis zumindest bei verheirateten Personen, dem persönlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen – sprich der Familie – das größere Gewicht beizumessen.