Deutschland wird nun, gut zwei Jahre nach der letzten Überarbeitung des GWB, mit der geplanten Novellierung den nächsten Schritt zu einer schärferen kartellrechtlichen Regulierung von Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen vollziehen. Der vom BMWi in die Ressortabstimmung gegebene Referentenentwurf zur 10. GWB-Novelle („GWB-Digitalisierungsgesetz“) gibt ein äußerst ambitioniertes Programm vor, das das Zeug hat, Deutschland zum Vorreiter bei der kartellrechtlichen Regulierung digitaler Märkte zu machen.
Die wesentlichen Neuregelungen des „GWB-Digitalisierungsgesetzes“
Der Referentenentwurf zum „GWB-Digitalisierungsgesetz“ sieht neben Änderungen im Bereich der Fusionskontrolle, des Kartellbußgeldverfahrens sowie des Kartellschadensersatzrechts insbesondere Novellierungen im Anwendungsbereich digitaler Märkte vor. Im Folgenden gehen die Verf. auf die wesentlichen Neuerungen ein und ordnen diese in ihren aktuellen Kontext ein.
Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten als Faktor bei der Bewertung der Marktstellung
Der Referentenentwurf sieht vor, dass der „Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten“ ausdrücklich ein Faktor bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern sein soll (§ 18 Abs. 3 Nr. 2 GWB n.F). Damit will der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass Daten mittlerweile in fast allen modernen Geschäftsmodellen, nicht nur bei Digitalunternehmen, eine entscheidende Rolle spielen. So bringt die Verfügungsmacht über große Datenmengen zum einen Vorteile bei dem Angebot eigener maßgeschneiderter Produkte für Verbraucher, zum anderen erlauben Daten z.B. zielgerichtete Werbung und sind damit für werbende Unternehmen interessanter. Die überragende Bedeutung, die Daten heute für Unternehmen haben, soll nun dadurch berücksichtigt werden, dass der Zugang zu Daten erleichtert wird. So soll nach der Novellierung ein Missbrauch vorliegen können, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen „sich weigert, ein anderes Unternehmen mit dieser Ware oder gewerblichen Leistung einschließlich des Zugangs zu eigenen Daten, Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu beliefern, die Belieferung objektiv notwendig ist, um auf einem vor- oder nachgelagerten Markt tätig zu sein und die Lieferverweigerung den wirksamen Wettbewerb auf diesem Markt auszuschalten droht, es sei denn die Lieferverweigerung ist sachlich gerechtfertigt“ (§ 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB n.F.). Auch im Rahmen der Regelungen zur relativen Marktmacht soll eine Ergänzung aufgenommen werden, wonach sich die Abhängigkeit „auch daraus ergeben kann, dass ein Unternehmen für die eigene Tätigkeit auf den Zugang zu Daten angewiesen ist, die von einem anderen Unternehmen kontrolliert werden“ (§ 20 GWB n.F. soll in Abs. 1a). Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Neuregelungen auf den Umgang von Unternehmen mit „Big Data“ auswirken werden. In der praktischen Anwendung wird es insbesondere darauf ankommen, ob Anspruchsteller den Nachweis erbringen können, auf bestimmte Daten wirklich angewiesen zu sein, um die gesetzgeberisch angestrebte Zugangserleichterung zu „Big Data“ durchzusetzen. Die Begründung der Novellierung lässt darauf schließen, dass zu der Frage des Datenzugangs das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
Verschärfte kartellrechtliche Regulierung von Unternehmen mit „überragender marktübergreifender Bedeutung“
Eine weitere, teilweise als „revolutionär“ angekündigte Neuerung soll in § 19a GWB n.F. verankert werden, um eine effektivere Kontrolle von solchen Digitalunternehmen zu ermöglichen, denen „eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt“. Eine solche Sonderstellung soll vom Bundeskartellamt durch Verfügung festgestellt werden können, wenn ein Unternehmen in „erheblichem Umfang“ auf mehrseitigen Märkten oder in Netzwerken tätig sind. Solche Unternehmen sind nach Auffassung des Gesetzgebers aufgrund ihrer überlegenen Mittel und ihrer strategischen Position in der Lage, ihre Marktmacht in dynamische, neue Märkte auszudehnen. Dies kann beispielsweise durch Kampfpreisstrategien, Exklusivitätsvereinbarungen, Bündelangebote oder auch durch Nutzung von Daten auf Parallelmärkten geschehen. Auf digitalen Märkten können Netzwerkeffekte schneller als auf anderen Märkten zu Konzentrationsentwicklungen führen. Nach den bisherigen Regelungen des GWB war es im Grundsatz aber nur möglich, missbräuchliches Verhalten auf Märkten zu sanktionieren, auf denen ein Unternehmen schon gewisse Marktanteile hatte. Nach der Novellierung soll es dem Bundeskartellamt möglich sein, auf der Grundlage der vorgesehenen zweistufigen Systematik ein Unternehmen, welches marktbeherrschend auf einem bestimmten Markt ist, auch auf anderen Märkten bestimmte, besonders schädliche Verhaltensweisen zu untersagen, sofern das Bundeskartellamt die entsprechende Marktstellung des Unternehmens zuvor per Verfügung festgestellt hat. In der Praxis wird aus Rechtsstaatlichkeitsgründen wohl i.d.R. eine Befristung dieser Verfügung geboten sein.
Spezialregeln für digitale Plattformen
Zudem nimmt die Novelle insbesondere digitale Plattformen in den Blick. So soll klargestellt werden, dass auch sogenannte „Informationsintermediäre“ marktmächtig sein können (§ 18 Abs. 3b GWB n.F.), ein Vorschlag, der der Studie zur „Modernisierung der Missbrauchsaufsicht für marktmächtige Unternehmen“ vom 29.08.2019 entstammt. Als Informationsintermediär soll demnach ein Unternehmen bezeichnet werden, welches „als Vermittler auf mehrseitigen Märkten tätig ist“. Diese Vermittler – typischerweise digitale Plattformen – entscheiden häufig als „Gatekeeper“ über den Marktzugang von Produktanbietern, die auf den Websites dieser Vermittler handeln möchten. Für die Produktanbieter ist es gerade entscheidend, ob und wie sie auf einer Website gelistet bzw. gerankt sind. Dies gilt insbesondere, wenn es für die Anbieter von Produkten keine hinreichenden Ausweichmöglichkeiten gibt. Deshalb soll in der Neuregelung klargestellt werden, dass bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens, „das als Vermittler auf mehrseitigen Märkten tätig ist, […] insbesondere auch die Bedeutung der von ihm erbrachten Vermittlungsdienstleistungen für den Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten zu berücksichtigen“ sind.
Relative Marktmacht: Streichung der KMU-Eigenschaft in § 20 GWB
Mit der vorgeschlagenen Neuerung in § 20 Abs. 1 GWB n.F. geht der Referentenentwurf ein Thema an, das ebenfalls prominent in der Studie zur „Modernisierung der Missbrauchsaufsicht für marktmächtige Unternehmen“ thematisiert wurde. Dabei kam die Studie zu dem Ergebnis, dass die Schwelle für ein Eingreifen der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht in den digitalen Märkten in bestimmten Situationen zu hoch sein könnte, weil dies bislang bei einer festgestellten marktbeherrschenden Stellung der Fall war. Deshalb sollten schon die Verhaltensweisen von Digitalunternehmen, welche vor der Erlangung einer marktbeherrschenden Stellung stehen, auf missbräuchliches Verhalten kontrolliert werden können. Nach Ansicht der Autoren der Studie würden digitale Märkte sich dadurch auszeichnen, dass sie sehr schnell zu Märkten ohne nennenswerten Wettbewerb „kippen“ könnten. Gründe dafür seien u.a. Netzwerkeffekte sowie der Umstand, dass Dienstleistungsangebote in digitalen Märkten häufig schnell und unproblematisch skalierbar seien. Wenn Märkte aber einmal „gekippt“ seien, sei es nahezu unmöglich, sie wieder für den Wettbewerb zu öffnen. Die Regelung des § 20 GWB erlaubte es dem Bundeskartellamt schon bisher, gegen missbräuchliches Verhalten eines Unternehmens vorzugehen, soweit sich dieses Verhalten gegen von ihm abhängige Unternehmen richtete. Allerdings war die Annahme eines Missbrauchs relativer Marktmacht in einer solchen Konstellation bisher nur möglich, wenn das „relativ abhängige Unternehmen“ ein kleines oder mittleres (KMU) ist. Diese Einschränkung soll im Rahmen der Novellierung nunmehr gestrichen werden, um gerade auch solche Fälle zu erfassen, in denen der Wettbewerbsdruck von Digitalunternehmen gegenüber großen Unternehmen besteht. Einschränkend soll dies aber nur gelten, wenn „die Abhängigkeit wegen einer deutlichen Asymmetrie nicht durch eine entsprechende Gegenmacht der Anbieter oder Nachfrager des marktstarken Unternehmens aufgewogen wird“ (§ 20 Abs. 1 GWB n.F.).
Absenkung der Voraussetzungen für einstweilige Maßnahmen
Zudem sieht der Referentenentwurf in § 32a Abs. 1 GWB n.F. vor, die Voraussetzungen für die Anwendung von einstweiligen Maßnahmen durch das Bundeskartellamt abzusenken. Hintergrund ist, dass Verfahren des Bundeskartellamts wegen der aufwändigen Sachverhaltsermittlung oft viele Monate bis Jahre benötigen. Gerade digitale Märkte sind jedoch sehr dynamisch und können schnell zu einem Markt ohne nennenswerten Wettbewerb „kippen“. In diesen Fällen soll das Bundeskartellamt nach dem Willen des Gesetzgebers in Zukunft schneller und effektiver vorläufig mit den Mitteln des Kartellrechts einschreiten können, bevor Fakten geschaffen werden, die sich nicht wieder zurückdrehen lassen. Interessant an dieser Vorschrift ist auch, dass bei der Beurteilung zum Erlasse einer einstweiligen Maßnahme neben dem Schutz des Wettbewerbs auch „unmittelbar drohende, schwerwiegende Beeinträchtigungen eines anderen Unternehmens“ herangezogen werden können. Etwas abgemildert werden soll die volle Härte dieser Neuregelung durch die Rückausnahme in Satz 2, wonach Satz 1 keine Anwendung finden soll, „sofern das betroffene Unternehmen Tatsachen glaubhaft macht, nach denen die Anordnung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotenen Härte zur Folge hätte.“
Neue Prüfoption für horizontale Kooperationen
Zwar sehen die geplanten Neuregelungen vor allem eine Stärkung der Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamts gegen marktmächtige Unternehmen der Digitalökonomie vor. Der Referentenentwurf enthält jedoch auch eine weitere, von Unternehmensseite wahrscheinlich begrüßte Regelung zur Erleichterung bestimmter Kooperationen unter (potenziellen) Wettbewerbern. Dadurch soll es potenziellen Konkurrenten großer Digitalunternehmen erleichtert werden, Rechtssicherheit für mögliche Kooperationen zu erlangen, um so die Chance zu wahren, im Wettbewerb mit den großen Playern auftreten zu können. Derzeit sind derartige Kooperationen zwischen (potenziellen) Wettbewerbern stets mit Unsicherheiten über ihre kartellrechtliche Zulässigkeit behaftet, denn Kooperationen zwischen (potenziellen) Wettbewerbern sind ab einem gewissen gemeinsamen Marktanteil kartellrechtlich oft problematisch. Kartellbehörden sehen hier z.B. das Risiko wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen bzw. einer abgestimmten Verhaltensweise, z.B. in Form eines Austauschs wettbewerblich sensibler Informationen. Allerdings ist nicht jede Zusammenarbeit von Wettbewerbern aus kartellrechtlicher Sicht bedenklich. Dies ist vor allem dann nicht der Fall, wenn eine Kooperation erst dazu führt, dass Unternehmen am Wettbewerb teilnehmen können. Typische Beispiele im Bereich der Digitalökonomie, die der Referentenentwurf hier im Blick hat, sind z.B. die gemeinsame Nutzung von Daten oder die Zusammenarbeit von (potenziellen) Wettbewerbern bei der Etablierung von Plattformen. Nach der aktuellen Gesetzeslage gilt das sog. Selbsteinschätzungsprinzip („Self-Assessment“). Danach müssen die einzelnen Unternehmen, bevor sie an einer Kooperation teilnehmen, selbst prüfen und entscheiden, ob es sich um eine kartellrechtlich zulässige oder unzulässige Kooperation handelt. Neben dem Kriterium der Marktanteile erfolgt die im Rahmen einer solchen Selbsteinschätzung vorgenommene Prüfung in der Regel anhand der Prüfung möglicher Effizienzgewinne, die sich aus einer solchen Kooperation ergeben würden. Eine solche Prüfung ist in der Regel aufwendig und zudem stets mit dem Makel verbleibender Rechtsunsicherheit behaftet, falls die Unternehmen bei ihrer Selbsteinschätzung falsch liegen. Denn sollte eine Kartellbehörde später zu einer anderen kartellrechtlichen Bewertung der bereits umgesetzten Kooperation gelangen, droht ein hohes Bußgeld. Dieses Risiko führt nach wie vor dazu, dass Unternehmen sich im Zweifel gegen die Kooperation entscheiden. Zwar kann das Bundeskartellamt auch unter der derzeitigen Rechtslage schon Unternehmen informell zu der kartellrechtlichen Zulässigkeit der geplanten Kooperation beraten, allerdings nicht fristgebunden und ohne eine formale Entscheidung. Die geplante Neuregelung soll den kooperationswilligen Unternehmen nun einen Anspruch auf eine behördliche Entscheidung innerhalb einer Soll-Frist von sechs Monaten geben, sofern „ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse an einer solchen Entscheidung vorliegt“ (§ 32 c GWB n.F.). Laut dem Referentenentwurf kann ein solches Interesse z.B. bei komplexen neuen Rechtsfragen oder einem außergewöhnlich hohen Investitionsvolumen und -aufwand vorliegen.
Einordnung und Ausblick
Deutschland schreitet mit der vorgeschlagenen Novellierung des GWB weit voran, insbesondere was die kartellrechtliche Regulierung digitaler Märkte angeht. Die Veröffentlichung des Referentenentwurfs fällt in eine Zeit weltweiter Diskussionen zum regulatorischen Umgang mit „Big Tech“. Allerdings wird diese Novelle nicht der letzte Versuch sein, wettbewerblichen Bedenken in den Digitalmärkten durch kartellgesetzgeberische Tätigkeit Herr zu werden. Weder wird durch den Entwurf die weltweite Debatte vollständig abgebildet noch ist diese abgeschlossen. So lässt auch der Gesetzgeber erkennen, dass er weitere Anpassungen, beispielsweise beim Zugang zu Daten, für erforderlich hält. In jedem Fall gibt der nunmehr veröffentlichte Referentenentwurf zum „GWB-Digitalisierungsgesetz“ gesetzgeberisch konkretisierte Anhaltspunkte dafür, was in Zukunft in Deutschland, aber auch international an Durchsetzungsaktivitäten der Kartellbehörden in den digitalen Märkten zu erwarten ist. Dies sollten Unternehmen zum Anlass nehmen, ihre kartellrechtlichen Compliance-Regelungen zu prüfen und ggf. mit Blick auf die Besonderheiten dieser Entwicklungen anzupassen. Es fällt auf, dass der Entwurf offensichtlich die großen und etablierten Digitalunternehmen besonders in die Pflicht nehmen will. Trotz teilweise hoher Marktkonzentration darf aber nicht übersehen werden, dass sich inzwischen fast alle Industrieunternehmen und Dienstleister auf gewisse Weise zu Tech-Unternehmen entwickelt haben. Anwendungsprobleme sind daher dort zu erwarten, wo die neuen Vorschriften auf Unternehmen angewandt werden, die normalerweise nicht im Fokus der Diskussion um das digitale Kartellrecht stehen, z.B. im Bereich der vielzitierten Industrie 4.0. Spannend wird es zudem sein zu sehen, wie die Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 das Thema auf europäischer Ebene weiter vorantreiben wird. Denn wesentliche Weichenstellungen bei der europaweiten und internationalen Kartellrechtsdurchsetzung erfordern über mitgliedstaatliche Regelungen hinaus ein Vorgehen auf europäischer Ebene. Als Diskussionsgrundlage beauftragte das Bundeswirtschaftsministerium die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0, um Handlungsempfehlungen zur Weiterentwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts im Lichte der digitalen Wirtschaft zu erarbeiten. In ihrem Bericht von September 2019 plädierten die Verf. u.a. dafür, die tatsächliche Datenverfügungsgewalt der Verbraucher zu stärken und für eine entschiedenere Überwachung marktbeherrschender Plattformen zu sorgen.