Der Einfluss der Digitalisierung auf Unternehmen, Branchen sowie interne und externe Abläufe ist enorm. Inwiefern die digitale Transformation selbst Kernbereiche wie die Rechnungslegung beeinflusst und welche Anpassungen dort künftig notwendig werden, erklärt WP/StB Prof. Dr. Christian Zwirner, Honorarprofessor an der Universität Ulm sowie Lehrbeauftragter an weiteren deutschen Universitäten und Gastdozent an der Bundesfinanzakademie.
DB: Herr Professor Zwirner, welche Auswirkung hat die Digitalisierung auf die Rechnungslegung – und wieso überhaupt?
Zwirner: „Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Rechnungslegung sind enorm. Diese hohe Relevanz hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich auch Unternehmen, die hinsichtlich der Branchenzugehörigkeit traditionell eher nicht den „digitalen Märkten“ zuzurechnen sind, zunehmend mit der Digitalisierung auseinandersetzen müssen. Denn Unternehmen, unabhängig von der Branchenzugehörigkeit, agieren am Markt nicht isoliert von den übrigen Marktteilnehmern. Sie sind darauf angewiesen, digitale Lösungen, beispielsweise Software anderer Hersteller oder auch selbst erstellte zu implementieren, damit das Kerngeschäft überhaupt vorangetrieben werden kann. Absatzmärkte, Beschaffungswege, Lieferketten und weitere Prozesse im Unternehmen werden zunehmend digital. Dies hat auch Auswirkungen auf die Rechnungslegung, weil derartige Investitionen in immaterielle Werte auch abgebildet werden müssen.“
DB: Die Bedeutung immateriellen Vermögens nimmt durch die digitale Transformation also immer stärker zu. Wie müssen Rechnungslegungsvorgaben vor diesem Hintergrund angepasst werden?
Zwirner: „Das deutsche Handelsrecht ist traditionell zurückhaltend was die Abbildung von immateriellen Vermögenswerten angeht. Das handelsrechtliche Vorsichtsprinzip ist weiterhin ein zentraler Bestandteil des HGB. Eine Annäherung an die IFRS erfolgte hinsichtlich der Bilanzierung immaterieller Vermögensgegenstände allerdings bereits mit dem BilMoG; selbst geschaffene immaterielle Werte dürfen seit dem auch nach HGB aktiviert werden. Das Ziel muss letztlich sein, dass den Bilanzadressaten ein realitätsnahes Bild des betreffenden Unternehmens durch den Jahresabschluss vermittelt wird. Die Informationsfunktion des Jahresabschlusses darf im Zuge der digitalen Transformation nicht ins Hintertreffen geraten. Um das zu verhindern muss sich der Gesetzgeber grundlegende Gedanken darüber machen, wie die weiterhin steigende Relevanz immaterieller Vermögensgegenstände mit den gesetzlichen Standards am besten in Einklang zu bringen ist. Da wird es im Zweifel nicht reichen, bestehende Normen an der ein oder anderen Stelle lediglich anzupassen. Hier darf auch die Lageberichterstattung nicht vergessen werden. Dort finden sich bereits heute zentrale Aussagen der Unternehmen zu ihrer Digitalisierungsstrategie.“
DB: Wenn künftig der Begriff des Vermögensgegenstands neu definiert werden muss, bedeutet dies eine völlige Abkehr von der selbstständigen Verwertbarkeit?
Zwirner: „Meines Erachtens ist keine grundlegende Neudefinition des Begriffs des Vermögensgegenstands erforderlich. Eine Vielzahl immaterieller Werte erfüllt die Definition des Vermögensgegenstandes im handelsrechtlichen Sinn. Die Gefahr einer Abkehr von der selbstständigen Verwertbarkeit besteht daher ebenfalls nicht. Auch wenn immaterielle Werte naturgemäß nicht greifbar sind, sind diese dennoch häufig hinreichend konkret hinsichtlich ihres Wert- und Mengengerüsts. Immaterielle Wert können bereits heute einzeln bewertet und entsprechend auch einzeln verwertet werden. Eine wesentliche Herausforderung besteht allerdings darin, die Werte richtig zu quantifizieren. Hier ist neben einem umfassenden Verständnis der Digitalisierung auch Bewertungsexpertise gefragt.“
DB: Eine wesentliche Schwachstelle der aktuellen Rechnungslegungsnormen liegt sicher in ihrer Vergangenheitsorientierung. Wie wirkt sich dieser Umstand im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung derzeit schon aus?
Zwirner: „Es ist zunehmend zu beobachten, dass der handelsrechtliche Abschluss nicht das Potenzial der betreffenden Unternehmen widerspiegelt, wenn immaterielle Werte eine große Rolle für das Unternehmen spielen. Dies äußert sich u.a. darin, dass am Kapitalmarkt bei börsennotierten Unternehmen Werte gehandelt werden, die basierend auf den handelsrechtlichen Abschlüssen nicht direkt nachvollzogen werden können. Beispielhaft für die Situation sind steigende Buchwert- Marktwert-Lücken. Die handelsrechtliche Rechnungslegung bietet derzeit noch nicht genug Raum zur quantitativen Erfassung von immateriellen Werten.“
DB: Eine ergänzende qualitative Berichterstattung wird folglich immer wichtiger. Welche qualitativen Aspekte sollten Unternehmen Ihrer Ansicht nach unbedingt berücksichtigen?
Zwirner: „Die qualitative Berichterstattung sollte dazu genutzt werden, die Informationen zu vermitteln, die sich aus den quantitativen Informationen respektive aus dem reinen Zahlenwerk nicht ergeben. Insbesondere die unzureichende Zukunftsperspektive des Zahlenwerks kann durch qualitative Aussagen bis zu einem gewissen Punkt ausgeglichen werden. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, die vorhandenen immateriellen Vermögensgegenstände sowie das Geschäftsmodell zu erläutern und den Zusammenhang zum Unternehmen sowie zum Gesamtmarkt klarzustellen. Immaterielle Werte – nicht nur aber auch im Kontext der Digitalisierung – müssen einen festen Platz in der Unternehmensberichterstattung im Lagebericht finden. Hier wird dann auch der Wirtschaftsprüfer gefordert sein.“
Vielen Dank für das Interview, Herr Professor Zwirner!
Das Interview führte Viola C. Didier, RES JURA Redaktionsbüro.
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Mit diesem Thema beschäftigt sich auch die Kommentierung von WP/StB Prof. Dr. Christian Zwirner und Gregor Zimny, M.Sc. „IDW Positionspapier zu den Auswirkungen der digitalen Transformation auf Finanzberichterstattung und Unternehmensbewertung“. Sie finden den Beitrag in DER BETRIEB vom 22.12.2017, Heft 51-52, Seite 3012, DB1257226