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06.07.2022

Interview

„Der Mindestlohn spielt insolvenzanfechtungsrechtlich keine Sonderrolle mehr“

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat kürzlich geurteilt, dass der gesetzliche Mindestlohn wie jede andere Forderung der Insolvenzanfechtung nach §§ 129 ff. InsO unterliegt. Weshalb das Urteil so bedeutend für die Praxis ist, erklärt Dr. Patrick Mückl, Partner bei der Kanzlei Noerr in Düsseldorf und Fachanwalt für Arbeitsrecht.

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Patrick Mückl

DB: Herr Dr. Mückl, worum ging es in dem zugrunde liegenden Verfahren?

Mückl: In dem Verfahren, das dem Urteil vom 25.05.2022 (6 AZR 497/21) zugrunde liegt, hatte ein Insolvenzverwalter die Zahlung des Mindestlohnes an eine Mitarbeiterin insolvenzrechtlich angefochten (§§ 129 ff. InsO): Die beklagte Arbeitnehmerin erhielt in den letzten beiden Monaten vor dem Insolvenzantrag – und damit in von § 131 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 InsO erfassten Zeiträumen – unter Angabe des Verwendungszwecks „Lohn August“ bzw. „Lohn September“ für den jeweiligen Monat ihr Arbeitsentgelt von dem Konto der Mutter ihres damals bereits zahlungsunfähigen Arbeitgebers.

Am 01.12.2016 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers eröffnet. Der auf Rückgewähr klagende Insolvenzverwalter hat die Zahlungen wegen sog. Inkongruenz angefochten. Hintergrund war, dass nicht der Arbeitgeber selbst, sondern dessen Muttergesellschaft den Lohn für ihn gezahlt hatte. Nach Ansicht der beklagten Arbeitnehmerin ist eine Anfechtung in Höhe des Existenzminimums bzw. in Höhe des Mindestlohns unzulässig. Die Vorinstanz, das Hessische Landesarbeitsgericht, hatte die Klage des Insolvenzverwalters ebenso wie das ArbG Gießen abgewiesen.

Ein technisches Kernargument des LAG war: Mindestlohngesetz und Insolvenzordnung seien gleichrangige Bundesgesetze und die Anfechtung des Insolvenzverwalters daher ausgeschlossen. Das BAG hat dies nun anders beurteilt und die Insolvenzanfechtung zugelassen.

DB: Mindestlohnzahlungen können damit vom Insolvenzverwalter erfolgreich angefochten, d.h. zur Insolvenzmasse zurückgefordert werden – aber inwieweit spielt der Mindestlohn eine Rolle?

Mückl: Richtig, der Mindestlohn ist nicht „anfechtungsfrei“, sondern anfechtbar. Er spielt – anders als auf Basis der Entscheidungen der Vorinstanzen – nach dem BAG-Urteil insolvenzanfechtungsrechtlich keine Sonderrolle mehr.

Für Mitarbeiter (m/w/d) bedeutet das: Sie nehmen (über gesetzliche Privilegierungen wie § 142 Abs. 2 InsO hinaus) im Rahmen der Insolvenzanfechtung eine weniger starke Sonderrolle ein. Der verfassungsrechtlich gebotene (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 12 GG, vgl. BAG, Urteil vom 29.01.2014 – 6 AZR 345/12) Schutz des Existenzminimums des Arbeitnehmers wird auf Basis der Entscheidung des BAG nicht bereits durch den Mindestlohn, sondern erst durch die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung (§§ 850 ff. ZPO) und das Sozialrecht (§ 54 SGB I) gewährleistet. Die Differenz zwischen Mindestlohn und Existenzminimum kann vom Insolvenzverwalter – jedenfalls bei inkongruenter Deckung – zurückverlangt werden.

DB: Weshalb ist diese Entscheidung für Insolvenzverwalter so wichtig?

Mückl: Für Insolvenzverwalter schafft sie zunächst einmal Rechtssicherheit und erweitert vor allem die Chancen für eine Massemehrung. Denn die Insolvenzanfechtung macht beim Mindestlohn nicht halt. Ein ganz wichtiges Signal ist unabhängig davon, dass in der Sanierungspraxis zuletzt verstärkt befürchtete Tendenzen, Arbeitnehmern in der Insolvenz – insbesondere bei der Insolvenzanfechtung – eine noch weitergehende Sonderstellung einzuräumen, nicht vertieft werden:

Das BAG hatte bereits in der Vergangenheit in Fällen kongruenter Deckung (§ 130 InsO) erwogen, durch eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 129 ff. InsO das im Arbeitsentgelt enthaltene Existenzminimum anfechtungsfrei zu stellen (BAG, Urteil vom 29.01.2014 – 6 AZR 345/12, Rn. 15 ff.). Allerdings hatte es zugleich entschieden, dass ein Anfechtungsausschluss jedenfalls dann nicht in Betracht kommt, wenn die Rückforderung im Wege der Insolvenzanfechtung wegen inkongruenter Deckung erfolgte, weil die Vergütung unter dem Druck einer drohenden Zwangsvollstreckung gezahlt wurde (BAG, Urteil vom 26.10.2017 – 6 AZR 511/16). Wenn man mit dem Hessichen LAG als Vorinstanz auch für inkongruente Deckungen einen Anfechtungsausschluss in Bezug auf den gesetzlichen Mindestlohn annimmt, wird der das Insolvenzverfahren an sich prägende Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung weiter aufgelöst und die Arbeitnehmer werden gegenüber den übrigen Gläubigern noch bessergestellt.

Diese Befürchtung hat sich jetzt nicht realisiert. Das vorliegende Urteil ist kein weiterer Baustein für ein „Sonderanfechtungsrecht“ für Arbeitnehmer. Fraglich bleibt für Insolvenzverwalter vor diesem Hintergrund, ob das BAG mit den Überlegungen, in Fällen kongruenter Deckung (§ 130 InsO) durch eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 129 ff. InsO das im Arbeitsentgelt enthaltene Existenzminimum anfechtungsfrei zu stellen, weiter Ernst machen möchte. Wenn das Existenzminimum – wie das BAG im aktuellen Urteil angenommen hat – allerdings durch die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung (§§ 850 ff. ZPO) und das Sozialrecht (§ 54 SGB I) gewährleistet wird, bleibt für die Argumentation mit einer verfassungskonformen Auslegung wenig Spielraum.

DB: Was bedeutet das Urteil für Unternehmen in der Krise?

Mückl: Für Unternehmen in der Krise bedeutet das Urteil zunächst, dass sie auch bei den Lohnzahlungen compliant sein müssen, mit denen im Ergebnis Mitarbeiter im Unternehmen zu halten und Sanierungschancen gewahrt werden sollen. Es kann nicht damit geworben werden, dass der Mindestlohn in jedem Fall beim Arbeitnehmer verbleibt. Die in §§ 129 ff. InsO enthaltenen Spielregeln für Zahlungen müssen – vorbehaltlich der erwogenen Privilegierungen im Fall kongruenter Deckung (§ 130 InsO) – auch im Arbeitsverhältnis eingehalten werden. Ob der Mindestlohn überhaupt als Anreiz dienen kann, trotz (drohender) Insolvenz im Unternehmen zu verbleiben, hängt natürlich von dem Lohngefüge in der jeweiligen Branche und von den Chancen auf eine anderweitige Beschäftigung im Einzelfall ab.

DB: Worauf kommt es nun an, um Mitarbeiter bei der Stange zu halten?

Mückl: Wichtig ist weiterhin, Gestaltungen zu wählen, bei denen keine oder möglichst geringe Anfechtungsrisiken bestehen. Das gilt seit dem Ausschluss der Anfechtungsfreiheit des Mindestlohns erst recht, war aber insbesondere mit Blick auf Leistungs- und Know-how-Träger völlig unabhängig vom Mindestlohn schon früher wichtig. Repressive Mittel sind zur effektiven Bindung in aller Regel ungeeignet. Gleiches gilt – allerdings mit Abstrichen – für die Zahlung von (vorfinanziertem) Insolvenzgeld.

Zielführend können u.a. Halteprämien sein, die arbeitsrechtlich die Betriebstreue zur Leistungsvoraussetzung machen müssen. Der insoweit maßgebliche Stichtag muss im Bemessungszeitraum und nach Insolvenzeröffnung liegen. In diesem Fall handelt es sich – wie das BAG früher (Urteil vom 12.09.2013 – 6 AZR 913/11) explizit klargestellt hat – um Masseverbindlichkeiten, die nicht als unentgeltliche Leistung zu qualifizieren und damit nicht nach § 134 InsO anfechtbar sind. Zur (eingeschränkt möglichen) Absicherung gegen eine Anfechtung im Übrigen müssen sie in einem möglichst frühen Krisenstadium vereinbart und Bestandteil eines schlüssigen Sanierungskonzepts ein. Das setzt eine frühzeitige strategische Planung voraus. Denn die an ein solches Konzept gestellten Anforderungen sind auch nach der Rechtsprechung des BAG streng.

DB: Vielen Dank für das Interview!


Das Interview führte Viola C. Didier, RES JURA Redaktionsbüro

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