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23.08.2019

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BGH: Leiharbeitnehmer zählen für den Schwellenwert der paritätischen Mitbestimmung

Bei der Frage, ob ein Unternehmen wegen Überschreitung des Schwellenwerts von in der Regel 2.000 Arbeitnehmern einen paritätisch besetzen Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz bilden muss, sind Leiharbeitnehmer zu berücksichtigen, wenn das Unternehmen regelmäßig während eines Jahres über die Dauer von mehr als sechs Monaten Arbeitsplätze mit Leiharbeitnehmern besetzt. Das hat der BGH bereits durch Beschluss vom 25.06.2019 entschieden, wie jetzt bekannt wurde (Pressemitteilung Nr. 110/2019 vom 20.08.2019). Das kann dazu führen, dass jetzt Unternehmen erstmals einen mitbestimmten Aufsichtsrat bilden müssen.

BGH: Leiharbeitnehmer zählen für den Schwellenwert der paritätischen Mitbestimmung

RA/FAArbR Dr. André Zimmermann, LL.M.
Partner, Orrick, Herrington & Sutcliffe LLP, Düsseldorf/München

Gesetzliche Ausgangslage und Streitfrage – Wer oder was zählt?

Wenn eine Kapitalgesellschaft, etwa eine AG, in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt, ist bei ihr ein paritätisch mitbestimmter Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zu errichten. Eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage, ob Leiharbeitnehmer für diesen Eingangsschwellenwert mitzuzählen sind, stand bislang aus. Seit der AÜG-Reform 2017 (vgl. dazu den Blog-Beitrag des Autors) legt § 14 Abs. 2 Satz 5 AÜG fest, dass Leiharbeitnehmer für die Schwellenwerte der Unternehmensmitbestimmung im Entleiherunternehmen zu berücksichtigen sind, gemäß § 14 Abs. 2 Satz 6 AÜG allerdings nur dann, wenn die Einsatzdauer sechs Monate übersteigt. Umstritten ist, wie diese Berechnungsvorschrift zu verstehen ist. Entgegen der bislang wohl herrschenden Auffassung legt der II. Senat diese Mindesteinsatzdauer von sechs Monaten nicht arbeitnehmerbezogen aus sondern arbeitsplatzbezogen: Die betreffenden Arbeitsplätze sind mitzuzählen, wenn die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern über die Dauer von sechs Monaten hinaus regelmäßig erfolgt.

Der Fall

Ein Logistikunternehmen der Automobilbranche beschäftigt überwiegend fest angestellte Arbeitnehmer und, abhängig von der Auftragslage, bezogen auf die Gesamtbelegschaft rund ein Drittel Leiharbeitnehmer. Im streitgegenständlichen Zeitraum lag die Gesamtzahl der Beschäftigten, d.h. der fest angestellten Arbeitnehmer und sämtlicher Leiharbeitnehmer, im Durchschnitt immer über 2.000. Bei Berücksichtigung nur der fest angestellten Arbeitnehmer und solcher Leiharbeitnehmer, deren tatsächliche oder prognostizierte Beschäftigungsdauer mehr als sechs Monate betrug, lag sie dagegen stets unter 2.000. Der Gesamtbetriebsrat hat die Bildung eines Aufsichtsrats nach den Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes verlangt. Er ist der Auffassung, dass in den Betrieben insgesamt mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt werden. Die Leiharbeitnehmer seien mitzuzählen, da sie auf Stammarbeitsplätzen eingesetzt würden. Das Unternehmen meint dagegen, dass nur solche Leiharbeitnehmer zu berücksichtigen seien, die selbst über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus beschäftigt seien. Die Schwelle von 2.000 sei somit nicht überschritten.

Entscheidung des BGH: Es zählt der Arbeitsplatz

Entgegen der bislang wohl herrschenden Auffassung legt der Senat die Mindesteinsatzdauer von sechs Monaten in § 14 Abs. 2 Satz 6 AÜG nicht arbeitnehmerbezogen aus sondern arbeitsplatzbezogen: Abzustellen sei nicht darauf, dass der einzelne Leiharbeitnehmer bei dem betreffenden Unternehmen mehr als sechs Monate eingesetzt bzw. dies zu prognostizieren sei, sondern darauf, wie viele Arbeitsplätze in dem Unternehmen regelmäßig über die Dauer von sechs Monaten hinaus mit (auch wechselnden) Leiharbeitnehmern besetzt seien. Dabei sei auch unerheblich, auf welchem konkreten Arbeitsplatz die Leiharbeitnehmer in dieser Zeit eingesetzt würden. Entscheidend sei vielmehr, ob der Einsatz von Leiharbeitnehmern als solcher so dauerhaft erfolge, dass er für die ständige Größe des Unternehmens ebenso prägend ist wie ein Stammarbeitsplatz.

Hintergrund und Entwicklung der Rechtsprechung

Bis zur AÜG-Reform 2017 (vgl. dazu den Blog-Beitrag des Autors) waren Leiharbeitnehmer für die Schwellenwerte der Unternehmensmitbestimmung nach gesicherter Rechtsprechung der Zivilgerichte nicht zu berücksichtigen. Daran hatte auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seit 2013 zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern für Schwellenwerte des Kündigungsschutzgesetzes (vgl. dazu den Blog-Beitrag des Autors) und der Betriebsverfassung nichts geändert. Zwar hatte das Bundesarbeitsgericht Ende 2015 seiner neuen Linie folgend entschieden, dass bei einer normzweckorientierten Auslegung Leiharbeitnehmer für den Schwellenwert des § 9 MitbestG zu zählen sind, also für die Frage, ob die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat direkt oder über Delegierte gewählt werden. Zu beachten ist aber, dass die Gerichte für Arbeitssachen nur zuständig sind für Anfechtungssachen. Im Übrigen sind für Statusverfahren die Zivilgerichte zuständig, die der Linie des Bundesarbeitsgerichts nicht gefolgt waren. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte wurde allerdings durch die AÜG-Reform 2017 mit Wirkung zum 01.04.2017 überholt: Nach § 14 Abs. 2 Satz 5 AÜG sollen im Entleiherunternehmen tätige Leiharbeitnehmer ebenso zählen wie Stammarbeitnehmer, allerdings sind sie nach Satz 6 nur dann zu berücksichtigen, „wenn die Einsatzdauer sechs Monate übersteigt“. Hier ist umstritten, ob es auf eine arbeitnehmerbezogene Sichtweise ankommt, also der einzelne Leiharbeitnehmer nur zu berücksichtigen ist, soweit er (tatsächlich oder prognostisch) über sechs Monate hinaus im Entleiherunternehmen eingesetzt wird bzw. werden soll  (so die bislang wohl h.M.), oder eine arbeitsplatzbezogene Betrachtung maßgeblich ist, also gefragt wird, wie viele Arbeitsplätze regelmäßig über sechs Monate hinaus mit (auch wechselnden) Leiharbeitnehmern besetzt sind bzw. werden. Der BGH hat sich nun der arbeitsplatzbezogenen Betrachtungsweise angeschlossen.

Auswirkungen in der Praxis

Als Folge der Entscheidung wird sich bei einigen Unternehmen die Pflicht zur erstmaligen Bildung eines mitbestimmten Aufsichtsrates ergeben. Unternehmen, bei denen derzeit ein drittelmitbestimmter Aufsichtsrat besteht, könnten durch die arbeitsplatzbezogene Betrachtung in die paritätische Mitbestimmung wechseln. Für die Größe des Aufsichtsrats wird nichts anderes gelten, so dass Unternehmen, bei denen bereits ein mitbestimmter Aufsichtsrat besteht, mit einem größeren Aufsichtsrat rechnen müssen. Die Entscheidung wird allerdings über den Einzelfall und über die Bildung des Aufsichtsrats nach dem Mitbestimmungsgesetz Wirkung haben. Sie wird auch die Berechnung der Schwellenwerte nach dem Drittelbeteiligungsgesetz, dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung sowie über die Mitbestimmung nach dem SE- und dem SCE-Beteiligungsgesetz betreffen. Die teilweise gelebten Rotationssysteme, d.h. eine Beschränkung des Einsatzes einzelner Leiharbeitnehmer auf maximal sechs Monate, werden nach der Entscheidung des BGH nicht verhindern können, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter Mitbestimmungsrechte nach diesen Gesetzen geltend machen.

To-Dos für Vorstand und Geschäftsführung – Pflicht zur Einleitung eines Statusverfahrens

Die Unternehmensleitung, also etwa der Vorstand einer AG und die Geschäftsführer der GmbH, müssen laufend prüfen, ob die gesetzlichen Regelungen über die Errichtung und Zusammensetzung des Aufsichtsrats eingehalten werden. Vor allem Unternehmen, die sich in „gefährlicher“ Nähe der Schwellenwerte von 500 oder 2.000 bewegen, müssen sich mit der Entscheidung auseinandersetzen. Zunächst ist im Wege einer Bestandsaufnahme unter Berücksichtigung der weiteren Personalplanung und ggf. Zurechnung weiterer in Konzernunternehmen beschäftigter Leiharbeitnehmer zu ermitteln, ob der maßgebliche Schwellenwert überschritten wird. Überschreitet ein rechtsformmäßig erfasstes Unternehmen (z.B. AG, GmbH) unter Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern nach den Vorgaben des BGH den Schwellenwert, ist es verpflichtet, unverzüglich ein Statusverfahren nach § 97 AktG einzuleiten durch Bekanntmachung im Bundesanzeiger und durch Aushang in sämtlichen Betrieben der Gesellschaft und ihrer Konzernunternehmen. Antragsberechtigte (z.B. jeder Aktionär, der Gesamtbetriebsrat, vorschlagsberechtigte Gewerkschaften) können innerhalb eines Monats nach Bekanntmachung im Bundesanzeiger das Landgericht anrufen und eine gerichtliche Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats beantragen. Wird das Gericht nicht innerhalb der Monatsfrist angerufen, ist der Aufsichtsrat nach den in der Bekanntmachung des Vorstands angegebenen gesetzlichen Vorschriften zusammenzusetzen. Unabhängig von diesem außergerichtlichen Verfahren, das Vorstand oder Geschäftsführung einzuleiten haben, können Antragsberechtigte (z.B. Betriebsrat, Gewerkschaft) Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen, so dass Untätigkeit seitens des Unternehmens jedenfalls keine dauerhafte Option sein kann, allenfalls für einen vorübergehenden Zeitraum – etwa zur Prüfung der Rechtslage aber auch ggf. einer gesellschaftsrechtlichen Reorganisation. 


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