DB: „Neue Weltsteuerordnung“ klingt nach großen Veränderungen. Vielfach heißt es, dass sie jetzt Gestalt angenommen hat. Wie lang und beschwerlich war der Weg dahin?
Dirk Nolte: Der „neuen Weltsteuerordnung“ geht ein Jahrzehnt der Uneinigkeit, Ideen und Diskussionen voraus. Bereits vor über zehn Jahren begannen Diskussionen, ob die Rahmenbedingungen der internationalen Steuerwelt noch mit den technischen Entwicklungen in der Wirtschaft korrespondieren. Das mündete 2013 im ersten Großprojekt der OECD unter der Überschrift „Base Erosion and Profit Shifting“, die Abkürzung „BEPS“ wurde schnell etabliert. Im Oktober 2015 wurden daraufhin die „BEPS-Berichte“ zu den 15 zuvor identifizierten Aktionspunkten veröffentlicht. Ein Aktionspunkt blieb allerdings offen: Die Besteuerung der „digitalen Wirtschaft“. Die Arbeiten daran wurden vom Inclusive Framework on BEPS weitergeführt. Im Ergebnis hat sich ein Zwei-Säulen-Modell durchgesetzt.
DB: Und hierzu wurden Ende des vergangenen Jahres neue Details bekannt?
Dirk Nolte: Richtig, für die zweite Säule wurden zum Jahreswechsel unmittelbar nacheinander zwei Meilensteine passiert: Am 20.12.2021 wurden die detaillierten Vorschläge der OECD zur zweiten Säule veröffentlicht, am 22.12.2021 lag der darauf Bezug nehmende Richtlinienentwurf der EU auf dem Tisch. Das zeigt, wie stark der Wille zur baldigen Umsetzung der Maßnahmen ist. Nur wenig später – am 04.02.2022 – wurde durch die OECD ein erstes Konsultationspapier zur ersten Säule – zu den Themen „Nexus and Revenue Sourcing“ – veröffentlicht.
DB: Das angesprochene Säulenkonzept der OECD soll nahezu überall auf der Welt Anwendung finden. Wie sieht dieses Konzept aus?
Dirk Nolte: Die erste Säule („Pillar 1“) regelt die Neuverteilung von Besteuerungsrechten auf die sog. Marktstaaten. Sie schafft neue steuerliche Anknüpfungsregeln dahingehend, dass Staaten Unternehmen auch dann besteuern dürfen, wenn diese in dem Staat gar nicht physisch – also klassischerweise durch eine Betriebsstätte oder eine Tochtergesellschaft – präsent sind. Maßgeblich ist dafür nur, dass diese Unternehmen am Wirtschaftsgeschehen des Landes partizipieren und einen gewissen Umsatz damit erwirtschaften, der Staat für das Unternehmen mithin einen „Markt“ als neuen Anknüpfungspunkt für die Besteuerung darstellt.
Die zweite Säule („Pillar 2“) sieht eine umfassende, weltweite Mindestbesteuerung von multinationalen Unternehmen vor. Mit einer Vorgehensweise, die an die deutsche Hinzurechnungsbesteuerung erinnert, soll damit eine globale Mindestbesteuerung von 15 % erreicht werden.
DB: Warum wurde ein internationales Vorgehen gewählt?
Dirk Nolte: Ein international abgestimmtes Vorgehen ist notwendig zur erfolgreichen Umsetzung. Der Druck zur Einführung dieser Regelung kommt gerade aus der Hoffnung, Insellösungen und Flickenteppiche in der internationalen Unternehmensbesteuerung zu verringern. Je mehr Länder sich an der Neuregelung beteiligen, desto größer sind die Erfolgschancen für eine erfolgreiche Umsetzung und damit eine „neue Weltsteuerordnung“, die diesen oft bemühten Namen auch verdient. Ein wesentlicher Aspekt ist gerade die Verbindung dieser Neuregelungen mit der Abschaffung der Digitalsteuern, die in den letzten Jahren in zahlreichen Ländern bereits eingeführt oder zumindest auf den gesetzgeberischen Weg gebracht worden sind.
DB: Welche Unternehmen sollten jetzt aktiv werden?
Dirk Nolte: Zunächst ist festzuhalten, dass die beiden Säulen Unternehmen nicht gleichermaßen treffen werden. Die Regelungen in den beiden Säulen sind zwar aus politischer Sicht ein gemeinsames Projekt, inhaltlich und damit steuerlich aber unabhängig voneinander. Durch die hohe Schwelle von 20 Milliarden Euro Umsatz und 10 % Umsatzrentabilität wird Pillar 1 zunächst weltweit nur ungefähr 100 Unternehmen betreffen, in Deutschland voraussichtlich kein Dutzend. Anders ist es bei Pillar 2. Dessen Regelungen treffen alle Unternehmensgruppen, deren globaler Umsatz 750 Millionen Euro überschreitet. Internationale Organisationen, Non-Profit-Organisationen, staatliche Unternehmen, Pensionsfonds und bestimmte Investmentvehikel sowie Immobilienanlagegesellschaften sollen grundsätzlich von den Regelungen nicht betroffen sein.
DB: Wie ist die globale Mindestbesteuerung („GloBE“) in Pillar 2 ausgestaltet?
Dirk Nolte: Wird innerhalb einer Unternehmensgruppe die Schwelle von 15 % in einzelnen Ländern unterschritten, ist nach der Neuregelung ein Nachversteuerungssatz in Höhe der jeweiligen Differenz zu diesem Satz von 15 % zu bilden, die sog. „top-up tax rate“. Die Summe der (durch Zu- und Abrechnungen in vielfacher Weise GloBE-spezifisch angepassten und in aller Regel auf IFRS-Basis ermittelten) Ergebnisse aller relevanten Einheiten eines Landes wird mit dem länderspezifischen Nachversteuerungssatz belegt, so dass sich der Betrag der länderbezogenen Nachversteuerung ergibt. Dieser wird vorrangig nach einem Top-Down-Ansatz gemäß der „Income Inclusion Rule“ oder durch die nachrangige Auffangregel der „Undertaxed Payment Rule“ (sog. GloBE-Regeln) erhoben.
Das bedeutet, dass grundsätzlich die Konzernmutter sämtliche Nachversteuerungsbeträge für die ihr nachgeordneten Einheiten entrichten muss. Wendet der Ansässigkeitsstaat der Konzernspitze die „Income Inclusion Rule“ nicht an, ist die Anwendung der Regelung auf der nächsttieferen Konzernebene zu prüfen. Erst wenn nach dieser Vorgehensweise niedrig besteuerte Einkünfte unberücksichtigt bleiben, kommt die „Undertaxed Payment Rule“ als Auffangtatbestand zur Anwendung. Die nach Anwendung der Income Inclusion Rule verbleibenden Nachversteuerungsbeträge der Unternehmensgruppe werden dann auf die relevanten Staaten verteilt, die eine „Undertaxed Payment Rule“ eingeführt haben. Die Aufteilung erfolgt nach einer Formel auf der Basis der jeweiligen Anteile bestimmter Sachanlagen und der Beschäftigtenzahl in den einzelnen Ländern in Relation zu der Gesamtsumme der Sachanlagen und Beschäftigtenanzahl über alle Länder des Konzerns, die die „Undertaxed Payment Rule“ eingeführt haben.
DB: Wo sollte ein Unternehmen mit der Prüfung, ob Handlungsbedarf besteht, beginnen?
Dirk Nolte: Im Prinzip gibt es zwei Punkte, die jetzt in den Vordergrund treten müssen: Die Erfassung von notwendigen Daten und das Wissen über deren Auswertung. Zunächst muss jedes Unternehmen prüfen, ob es in den Anwendungsbereich der Neuregelungen fällt, also bspw. ob überhaupt die Mindestumsatzhöhe erreicht wird. Ist das der Fall, ist die Auswertung vorzubereiten: Für jedes Land, in dem eine Unternehmensgruppe eine “Constituent Entity” (bspw. Tochtergesellschaft oder Betriebsstätte) unterhält, muss der GloBE-spezifische effektive Steuersatz über alle relevanten Einheiten dieses Landes ermittelt werden. Gibt es mehrere Constituent Entities im Land, erfolgt eine summarische Zusammenfassung durch das sog. „jurisdictional blending“.
Liegt dieser neu berechnete Steuersatz in allen relevanten Ländern bei oder über den maßgeblichen 15 %, ist keine Nachversteuerung erforderlich. Da diese Ermittlung aber länderspezifisch erfolgen muss und zahlreiche Besonderheiten bzw. Ausnahmen zu berücksichtigen sind (sowohl das OECD-Papier als auch der EU-Richtlinienentwurf haben über 70 Seiten), führt das zu einem parallelen Rechenwerk, welches bis jetzt nicht existent ist. Dem muss eine lückenlose und fehlerfreie Datenbeschaffung vorausgehen. Für jede relevante Einheit einer Unternehmensgruppe werden zahlreiche Datenpunkte als Berechnungsgrundlagen benötigt. Einbezogen werden hier bspw. auch relevante Einheiten, die sonst nicht im Konzernabschluss abgebildet werden. Letztlich wird eine neue Steuerrechnung geschaffen, die zukünftig neben der altbekannten Steuerrechnung für (in Deutschland) Körperschaft- und Gewerbesteuerzwecke stehen wird. Diese Steuerrechnung umfasst die Modifikation einer handelsrechtlichen Ausgangsgröße hin zu einer spezifischen GloBE-Bemessungsgrundlage über diverse Zu- und Abrechnungen sowie die gesonderte Ermittlung des berücksichtigungsfähigen Steuerbetrags unter Berücksichtigung von latenten Steuern und Sonderkriterien wie Steuerveranlagungs- und Zahlungsdaten.
DB: Ist für diese Prüfung Eile geboten und welcher Aufwand erwartet Unternehmen?
Dirk Nolte: Auf jeden Fall! Die „Income Inclusion Rule“ soll bereits ab 2023 Anwendung finden, die „Undertaxed Payment Rule“ ab 2024. Das ist angesichts der Tatsache, dass bis dahin ein Großteil der international agierenden Unternehmen eine präzise Analyse der anwendbaren steuerlichen Detailregelungen durchgeführt und ihr Tax Accounting angepasst, erweitert oder geändert haben muss, sehr wenig Zeit. All das bindet vor allem Ressourcen und es sollte gut überlegt werden, mit welchem Partner man sich hier vorbereitet. Bereits jetzt sollte eine umfassende steuerliche Datenerhebung innerhalb jeder betroffenen Unternehmensgruppe erfolgen, um in der verbleibenden Zeit bis 2023 Risiken und Probleme zu identifizieren und agil auf unterschiedliche Anforderungen von nationalen Umsetzungen reagieren zu können. Modellrechnungen können eine erste Indikation der Betroffenheit geben. Prozesse und Systeme sind aber die Schlüsselelemente der Umsetzung der datengetriebenen Anforderungen.
DB: Welche Unternehmensstruktur eignet sich am ehesten, um den Herausforderungen der neuen Regelungen zu begegnen?
Dirk Nolte: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Rein operativ von Vorteil wird es aber sein, wenn unternehmensweit möglichst einheitliche ERP-Systeme bestehen und auch in Bezug auf die notwendige Erfassung von einer Vielzahl von Einzeldaten eine möglichst hohe Medienbruchfreiheit gewährleistet ist. Ein technologiebasiertes Tax Accounting sowie ein wirksames Tax Operating Model sind geeignet, die Umsetzung der Säule 2 zu vereinfachen. Vielfach sind Konzerngruppen aber so nicht organisiert, gerade wenn in der Vergangenheit durch Erwerbe zuvor eigenständige Unternehmensgruppen zusammengeführt worden sind, deren jeweilige ERP-Systeme aber wegen hoher Komplexität unverändert weiter separat genutzt werden. Dann ist der Umsetzungsaufwand umso höher.
DB: Wie reagieren die Staaten auf die absehbare Einführung der Regeln zur globalen Mindestbesteuerung, insbesondere diejenigen, die in der Vergangenheit vor allem durch niedrige Steuersätze bekannt waren?
Dirk Nolte: Tatsächlich sind hier schon erste Reaktionen zu beobachten. Das scheint aus Sicht dieser Staaten auch dringend geboten, denn letztlich würde die niedrige „eigene“ Unternehmensbesteuerung in diesen Ländern durch die Nachversteuerung zu zusätzlichem Steueraufkommen in anderen Ländern führen. Dementsprechend wird vielfach national die Einführung einer zusätzlichen Steuer diskutiert, die eine Nachversteuerung in einem anderen Land betragsmäßig zielgenau verhindert.
DB: Sie haben die erforderlichen Berechnungsschritte geschildert und die hohe Komplexität beschrieben. Bleibt es dabei?
Dirk Nolte: Der politische Druck zur Umsetzung ist immens. Die Einführung wird im Rahmen des gesetzten Zeitplans aber auch für die nationalen Steuergesetzgeber und Steuerverwaltungen eine wohl beispiellose Herausforderung. Das spricht nach allen Verhandlungen auf den ersten Blick schon aus Zeitgründen gegen große neuerliche und verhandlungsbedürftige Vereinfachungsrunden, sondern – bei aller Komplexität – für die Umsetzung der Modellregelungen, wie sie jetzt ausgearbeitet und vorgelegt worden sind. Trotzdem sollten mögliche Vereinfachungen im weiteren Prozess einen zusätzlichen Schwerpunkt der Arbeiten bilden. Entsprechende Initiativen aus der Industrie [BDI-Positionspapier, 16.02.2022, „Die EU-Umsetzung der globalen Mindeststeuer“, Anm. d. Red.] und auch aus der Wissenschaft [INTERTAX, Volume 50, Issue 3 – Deborah Schanz et al., „Tax Administrative Guidance: A Proposal for Simplifying Pillar Two“, Anm. d. Red.] sind ausdrücklich zu begrüßen und sollten mit Nachdruck verfolgt werden.