Generalanwalt Norkus hat am 27.02.2025 seine Schlussanträge in der Rechtssache C‑134/24, Tomann, vorgelegt zu der Pflicht von Arbeitgebern, beabsichtigte Massenentlassungen der zuständigen Behörde anzuzeigen. Im Streitfall hatte ein Arbeitnehmer vor den deutschen Arbeitsgerichten geltend gemacht, dass die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses durch den Insolvenzverwalter seines Arbeitgebers nichtig sei, da sie Teil einer Massenentlassung sei, die der Insolvenzverwalter zuvor der Agentur für Arbeit hätte anzeigen müssen.
Bundesarbeitsgericht ruft EuGH zur Klarstellung an
Der in dritter Instanz mit dem Rechtsstreit befasste Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat Zweifel hinsichtlich der Sanktion, die das Fehlen einer solchen Anzeige zur Folge hat. Entgegen seiner früheren Rechtsprechung ist er der Meinung, dass die Sanktionsfolge nicht die Nichtigkeit der Kündigung des Vertragsverhältnisses sein könne. Allerdings hat auch der Zweite Senat des BAG bisher entschieden, dass eine Kündigung ohne eine vorherige Anzeige nichtig sei und das Arbeitsverhältnis nicht beenden könne.
Da ein Senat des BAG nur dann von der Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen darf, wenn dieser auf eine entsprechende Anfrage seine Rechtsauffassung aufgegeben hat (oder – widrigenfalls – der Große Senat des BAG eine Entscheidung über die zutreffende Beantwortung der zugrunde liegenden Rechtsfrage getroffen hat), hat der Sechste Senat dem Zweiten Senat die Frage vorgelegt, ob er an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält. Der Zweite Senat hat seinerseits den EuGH um Auslegung der Richtlinie 98/59 über Massenentlassungen ersucht.
Generalanwalt Norkus: Strenge Regeln für Massenentlassungen
Generalanwalt Rimvydas Norkus schlägt in seinen Schlussanträgen dem EuGH vor, die Fragen des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts wie folgt zu beantworten:
- Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen in der durch die Richtlinie (EU) 2015/1794 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2015 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer nach Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die in diesem Artikel vorgesehene Entlassungssperre abgelaufen ist.
- Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59 in der durch die Richtlinie 2015/1794 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass ein Arbeitgeber, der die Kündigung von Arbeitsverträgen ausgesprochen hat, ohne bei der zuständigen Behörde eine vorherige Anzeige der Massenentlassung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgenommen zu haben, eine solche Anzeige nicht nachträglich vornehmen kann, sofern dies zur Folge hätte, dass nach Ablauf der in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden könnten.
Um die anfängliche Unterlassung der Anzeige zu heilen, muss der Arbeitgeber zunächst eine ordnungsgemäße Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde vornehmen und danach neuerliche Kündigungen der betroffenen Arbeitsverträge aussprechen, wobei diese gemäß Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 98/59 in der durch die Richtlinie 2015/1794 geänderten Fassung frühestens 30 Tage nach Eingang der Anzeige wirksam werden.
Im Rahmen von Antwort 2 stellt der Generalanwalt u.a. fest, dass, da im vorliegenden Fall die Kündigungen ohne vorherige Anzeige der Massenentlassung erfolgt seien, aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 98/59 folge, dass diese Kündigungen nie wirksam geworden seien, da in Ermangelung dieser Anzeige die Frist von 30 Tagen nie zu laufen begonnen habe.
Fazit
Die Schlussanträge von Generalanwalt Norkus bestätigen: Ohne vorherige Anzeige einer Massenentlassung können Kündigungen nicht wirksam werden. Arbeitgeber, die dies versäumen, müssen den gesamten Prozess wiederholen – mit einer ordnungsgemäßen Meldung und neuen Kündigungen. Dies stärkt die Rechte der Arbeitnehmer und sorgt für mehr Rechtssicherheit im Arbeitsrecht.