I. Funktionsweise des 90%-Tests
Nach § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG) ist eine erbschaftsteuerliche Begünstigung vollständig nicht zu gewähren („Alles-oder-Nichts-Prinzip“), wenn das Verwaltungsvermögen die Grenze von 90% des Unternehmenswerts erreicht.
1. Ermittlung des Brutto-Verwaltungsvermögens
Bei der Ermittlung der Verwaltungsvermögensquote für den 90%-Test sind sämtliche Kürzungsmöglichkeiten, welche § 13b ErbStG bei der sonstigen Ermittlung des schädlichen Verwaltungsvermögens vorsieht, ausgeschlossen. Insbesondere erfolgt im Rahmen der Ermittlung des gemeinen Wertes der Finanzmittel (§ 13b Abs. 4 Nr. 5 ErbStG) weder eine Verrechnung mit bestehenden Schulden noch ein Abzug des sog. Finanzmittel-Freibetrags von 15% des Unternehmenswerts. Zudem muss die Kürzung des übrigen Verwaltungsvermögens um den verbleibenden anteiligen gemeinen Wert der Schulden (§ 13b Abs. 6 ErbStG) unterbleiben. Außerdem entfällt der Ansatz des 10%igen Kulanzpuffers (§ 13b Abs. 7 ErbStG), welcher das nach der anteiligen Schuldenkürzung verbleibende Netto-Verwaltungsvermögen wiederum anteilig in unschädliches Verwaltungsvermögen umqualifiziert. Der Ermittlung der Verwaltungsvermögensquote im Rahmen des 90%-Tests liegt damit eine von der sonstigen Systematik losgelöste Brutto-Betrachtung zugrunde. Die Brutto-Verwaltungsvermögensquote ist typischerweise wesentlich höher als die Quote des schädlichen Verwaltungsvermögens, welches im Ergebnis als nicht-begünstigtes Vermögen die eigentliche Steuerfolge auslöst.
2. Ermittlung des Unternehmenswerts
Zweiter Bestandteil des 90%-Tests bildet der Unternehmenswert. Dessen Ermittlung richtet sich nach dem BewG. Nach der Systematik des § 11 Abs. 2 BewG, welcher sowohl für nicht frei gehandelte Anteile an Kapitalgesellschaften, als auch für das Betriebsvermögen bzw. Anteile am Betriebsvermögen einer Personengesellschaft gilt (vgl. § 109 Abs. 2 Satz 2 BewG), ist der gemeine Wert vorrangig aus geeigneten Verkäufen unter fremden Dritten abzuleiten. Diese müssen weniger als ein Jahr vor dem Bewertungsstichtag liegen. Ist diese Wertableitung möglich, muss der Substanzwert nicht als Wertuntergrenze bestimmt werden. Ist die Ableitung des gemeinen Werts aus Verkäufen nicht möglich, soll eine Ermittlung des gemeinen Werts zunächst unter Berücksichtigung der Ertragsaussichten der Kapitalgesellschaft oder einer anderen anerkannten, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke üblichen Methode erfolgen. Der Substanzwert bildet dann in all diesen Fällen eine Mindestgröße des gemeinen Werts.
Der Substanzwert ergibt sich aus einer Minderung der Summe der gemeinen Werte der zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsgüter und sonstigen aktiven Ansätze um die zum Betriebsvermögen gehörenden Schulden und sonstigen Abzüge. Die Ausgestaltung als Mindestwert beruht auf der gesetzgeberischen Annahme, dass auch ertragschwache Unternehmen erhebliche stille Reserven haben können, also einen niedrigen Ertragswert bei zugleich hohem Sachwert aufweisen.
II. Nebenwirkungen des 90%-Tests
Die intendierte Missbrauchsbekämpfung des 90%-Tests in ihrer derzeitigen Ausgestaltung schießt mitunter über ihr Ziel hinaus. Dessen Fallbeileffekt kann in der Praxis als Nebenfolge insbesondere auch „unschuldige“ Dienstleistungs- oder Handelsunternehmen treffen. Diese weisen bereits von ihrem Geschäftsmodell her einen hohen Forderungsbestand aus Lieferungen und Leistungen und damit zugleich einen hohen Bestand an Finanzmitteln i.S.v. § 13b Abs. 4 Nr. 5 ErbStG auf. Diesen Aktiva stehen zwar meist zugleich hohe Verbindlichkeiten gegenüber, doch werden diese bei strenger Wortlautanwendung gerade nicht in den 90%-Test mit einbezogen. Die Brutto-Betrachtung führt somit schlimmstenfalls sogar dazu, dass eine erbschaftsteuerliche Begünstigung von vorneherein ausgeschlossen ist, obwohl keinerlei Missbrauchsabsicht bestand. Die derzeitige Ausgestaltung des 90%-Tests bewirkt dann nicht selten eine Überschreitung der 90%-Grenze, obwohl das unter Anwendung des Schuldenabzugs und Abzug des 15%igen Finanzmittel-Freibetrags berechnete Netto-Verwaltungsvermögen 0 € betragen hätte. Ohne die Bruttobetrachtung im Rahmen des 90%-Test wäre in diesen Fällen an sich sogar eine vollständige Begünstigung im Rahmen einer Optionsverschonung oder Verschonungsbedarfsprüfung möglich gewesen. Die mit der Entlastung des unternehmerischen Vermögens eigentlich intendierte Sicherung der wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit des Unternehmens wird in diesen Fällen ad absurdum geführt.
Besonders virulent wird diese Problematik, wenn der Unternehmenswert nach dem BewG mit dem Substanzwert angesetzt werden muss. Bei der Ermittlung im Substanzwertverfahren wirken sich die Schulden des Unternehmens – wie gezeigt – direkt mindernd auf den Unternehmenswert aus. Dies führt dazu, dass im Rahmen des 90%-Tests der Bruttowert des Verwaltungsvermögens mit einem Netto-Unternehmenswert verglichen werden muss. Im Ergebnis wird die 90%-Grenze hierdurch noch schneller erreicht, da dann beide Faktoren (hohes relatives Bruttoverwaltungsvermögen bei relativ niedrigem Unternehmenswert) gegen den Steuerpflichtigen arbeiten.
Unter die Räder des Alles-Oder-Nichts-Prinzips des 90%-Tests können damit auch Unternehmen kommen, welche in eine Krise geraten sind und daher einen hohen Schuldenstand aufbauen mussten und denen keine entsprechenden Gewinne oder gar Verluste gegenüberstehen. Wird hier im vereinfachten Ertragswertverfahren bewertet, wo die Ausgangsgröße der Bewertung – wie gezeigt – der durchschnittliche Ertrag der vergangenen drei Wirtschaftsjahre ist, greift häufig der Substanzwert als Wertuntergrenze ein. Steht den Schulden des Unternehmens auf Aktivseite dann noch ein gewisser Bestand an Finanzmitteln gegenüber (z.B. Forderungen aus Lieferungen und Leistungen) kann es sein, dass diese den 90%-Test nicht bestehen, obwohl keinerlei Missbrauchsgefahr erkennbar ist. Die hierdurch entstehende Erbschaftsteuer belastet diese Unternehmen und ihre Gesellschafter ausgerechnet in einer ohnehin kritischen Lage. So könnten etwa auch die Folgen der Covid-19-Pandemie dazu beitragen, das Bestehen des 90%-Tests für bestimmte Unternehmen zu erschweren.
III. Entscheidung des FG Münster vom 03.06.2019
Mit dem rechtskräftigen Beschluss des FG Münster (Az.: 3 V 3697/18) hat nunmehr erstmalig ein Gericht Zweifel an der Rechtmäßigkeit der gesetzlichen Regelung des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG geäußert. Im Streitfall wurden Anteile an einer GmbH übertragen, deren Substanzwert mit rund 556.000 € festgestellt wurde. Weiterhin wurden Finanzmittel (im Wesentlichen Forderungen aus Lieferungen und Leistungen) i.H.v. 2,5 Mio. € und Schulden i.H.v. 3,1 Mio. € festgestellt. Im Urteilsfall führte dies zu einer im Rahmen des 90%-Tests festzustellenden Verwaltungsvermögensquote von 473%. Rein rechnerisch wäre demgegenüber eine Optionsverschonung möglich gewesen, da die Netto-Finanzmittel aufgrund der Schuldensaldierung bei 0 € gelegen hätten und auch sonst kein Verwaltungsvermögen vorlag.
Das Finanzamt setzte wegen Verstoßes gegen den 90%-Test ungekürzt Schenkungsteuer fest. Die beantragte Aussetzung der Vollziehung wurde unter Berufung auf den eindeutigen Gesetzeswortlaut ebenfalls abgelehnt. Daraufhin stellten die Kläger einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung vor Gericht.
Das FG Münster gab dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung statt und griff dabei auch die kritischen Stimmen der Literatur auf. Laut dem Gericht bestünden „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Schenkungsteuerbescheids“. Die gesetzliche Regelung des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG führe „zu einem wirtschaftlich nicht nachvollziehbaren Ergebnis“ und es sei „zweifelhaft, ob dieses Ergebnis durch den Gesetzeszweck, der darin besteht, Missbrauch zu verhindern, gedeckt wird.„
Da zunächst allein über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu entscheiden war, konnte das FG Münster dem Antrag allerdings bereits wegen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bescheids stattgeben (§ 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Das Hauptsacheverfahren ist nach wie vor beim FG Münster (Az. 3 K 2174/19 Erb) anhängig. In der Entscheidung wurde zudem ausdrücklich offengelassen, ob aufgrund der geschilderten Bedenken eine einschränkende Auslegung der Vorschrift geboten sei. Es bleibt damit letztlich abzuwarten, ob das FG Münster in der Hauptsache überhaupt zu einer teleologischen Reduktion des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG kommt oder ob das Gericht gar eine konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) beim BVerfG anstrengt.
IV. Folgen für die Praxis
Steuerpflichtigen, die in ähnlich gelagerten Fällen betroffen sind, ist in jedem Fall zu raten, ebenfalls Aussetzung der Vollziehung zu beantragen bzw. laufende Fälle nach Möglichkeit solange offen zu halten, bis eine Entscheidung des FG Münster (und ggf. des BFH) in der Hauptsache vorliegt.
Für Grenzfälle, in denen auf die Unternehmensnachfolge bzw. das zu übertragene Unternehmen noch Einfluss genommen werden kann, sollten beide Elemente des 90%-Tests – Bruttoverwaltungsvermögen und Unternehmenswert – in den Blick genommen werden.
Nach Möglichkeit sollte Verwaltungsvermögen in begünstigtes Vermögen umgewandelt oder reinvestiert werden. Der rein tatsächlichen Unwägbarkeit eines unerwarteten Übertragungsstichtags durch Tod eines Gesellschafters kann durch Ausnutzung der sog. Investitionsklausel (§ 13b Abs. 5 ErbStG) vorgebeugt werden.
Auch bei der Bewertung bestehen zumindest gewisse Spielräume. Der 90%-Test zeigt, dass ein niedriger Unternehmenswert nicht immer zu einer niedrigeren Steuerlast führt. Ein höherer Unternehmenswert ist hier im Gegenteil sogar von Vorteil, da er die Bruttoverwaltungsvermögensquote des 90%-Tests gerade nach unten schiebt. Bei Unternehmen, welche schlechte Jahre hinter sich haben, aber eine gute Zukunftsprognose aufweisen, kann es sich empfehlen, nicht das vereinfachte Ertragswertverfahren zu wählen, da dieses den Durchschnitt der vergangenen Geschäftsjahre zum Ausgangspunkt hat. Hier kann es sich lohnen, ein Wertgutachten mit zukunftsorientierterem Bewertungsansatz einzuholen (z.B. ein IDW S 1-Gutachten). Alternativ wäre über ein Hinausschieben des Übertragungsstichtags (=Bewertungsstichtag) nachzudenken, da ein späterer Übertragungszeitpunkt dazu führen kann, dass negative Betriebsergebnisse aus dem Dreijahreszeitraum des vereinfachten Ertragswertverfahrens hinausfallen.