In seinem grundlegenden Urteil vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter verpflichten müssen. Bislang sind Arbeitgeber in Deutschland gemäß § 16 Abs. 2 S. 1 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) nur verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit (d.h. Überstunden sowie Sonn- und Feiertagsarbeit) entsprechend zu erfassen. Eine allgemeine vollumfängliche Aufzeichnungspflicht findet sich im deutschen Recht hingegen grundsätzlich nicht. Insofern durfte angenommen werden, dass Unternehmen erst tätig werden müssen, wenn der Gesetzgeber die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Zeiterfassungssystems entsprechend der unionsrechtlichen Vorgaben in deutsches Recht „umgesetzt“ hat. Diese Auffassung dürfte aufgrund der jüngsten arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung nunmehr jedoch hinterfragt werden. Denn das ArbG Emden hat in seinem Urteil vom 20. Februar 2020 (Az. 2 Ca 94/19) als – soweit ersichtlich – erstes deutsches Gericht eine unmittelbare Handlungspflicht für Arbeitgeber angenommen.
Hintergrund des arbeitsgerichtlichen Urteils
In dem Fall, der dem Urteil des ArbG Emden zugrunde lag, hatten die Parteien im Jahr 2018 einen mündlichen Arbeitsvertrag geschlossen, auf dessen Grundlage der Kläger einige Wochen lang für den Beklagten als Bauhelfer tätig war. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses machte der Kläger (vermeintlich) noch ausstehende Vergütungsansprüche geltend. Dabei war der zeitliche Umfang der vom Kläger erbrachten Arbeitsleistungen zwischen den Parteien streitig. Der Kläger behauptete, während der Dauer des Arbeitsvertrages insgesamt 195,05 Arbeitsstunden geleistet zu haben, von denen jedoch lediglich 183 Stunden von dem Beklagten angesetzt und vergütet worden seien. Zum Nachweis der vorgetragenen Arbeitszeiten legte der Kläger eine eigens erstellte Übersicht und sog. „Stundenrapporte“ vor. Der Beklagte hingegen bestritt die vom Kläger behauptete Stundenzahl und verwies zum Nachweis auf das geführte Bautagebuch, welches Arbeitsbeginn und Arbeitsende dokumentiert habe und aus dem sich eine Stundenanzahl von lediglich 183 Stunden ergebe.
Entscheidung des Arbeitsgerichts
Das ArbG Emden hat der Klage hinsichtlich des geltend gemachten Vergütungsanspruchs stattgegeben. Nach Auffassung des Gerichts ist der Beklagte seiner sekundären Darlegungs- und Beweislast nicht nachgekommen. Nach der in Vergütungsprozessen bestehenden abgestuften Darlegungs- und Beweislast müsse der Arbeitnehmer zunächst vortragen, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten er für den Arbeitgeber tätig war. Danach obliege es jedoch dem Arbeitgeber, sich substantiiert auf den Vortrag des Arbeitnehmers einzulassen und darzulegen, welche Arbeiten dem Arbeitnehmer konkret zugewiesen worden seien und an welchen Tagen dieser den Weisungen (ggf. nicht) nachgekommen sei. Nach Auffassung des Gerichts ist der Kläger unter Vorlage von Eigenaufzeichnungen seiner Darlegungslast auf der ersten Stufe ausreichend nachgekommen. Dem Vortrag des Klägers sei der Beklagte unter Verweis auf das Bautagebuch jedoch nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten. Der Vortrag des Klägers gelte daher gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
Zur Begründung führt das Arbeitsgericht Emden an, der Beklagte habe gegen die aus Art. 31 Abs. 2 Grundrechte-Charta (GRCh) folgende Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur täglichen Arbeitszeiterfassung verstoßen. Ein Bautagebuch stelle kein objektiv verlässliches Zeiterfassungssystem dar. Die Einträge in das Bautagebuch seien insbesondere ungeeignet, zu belegen, welche Arbeiten der Beklagte dem Kläger zugewiesen hat und an welchen Tagen dieser den Weisungen konkret nachgekommen ist oder nicht.
Unmittelbare Handlungspflicht für Arbeitgeber?
Nach Ansicht des ArbG Emden ergibt sich die Verpflichtung zur Einrichtung eines entsprechenden Zeiterfassungssystems aus einer unmittelbaren Anwendung von Art 31 Abs. 2 GRCh. Dies beruhe darauf, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Bestimmungen der Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG Konkretisierungen des Grundrechts aus Art. 31 Abs. 2 GRCh darstellen, nach dem jedem Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten zusteht. Eine Einhaltung der Arbeitszeitregeln sei jedoch nur bei einer vollständigen Erfassung der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden sowie deren Lage möglich (vgl. EuGH v. 14.05.2019 – C-55/18). Einen unmittelbaren Anspruch des Arbeitsnehmers gegen seinen Arbeitgeber habe der EuGH zudem auch hinsichtlich des ebenfalls in Art. 31 Abs. 2 GRCh normierten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub ausdrücklich bejaht (vgl. EuGH v. 06.11.2018 – C-569/16, C-570/16).
Die Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit treffe den Arbeitgeber daher ebenfalls unmittelbar, d.h. auch ohne dass es dafür einer richtlinienkonformen Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG oder einer konkreten Umsetzung durch den Gesetzgeber bedürfe. Vielmehr handle es sich dabei um eine vertragliche Nebenpflicht des Arbeitgebers gemäß § 241 Abs. 2 BGB, wonach die Arbeitsvertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen Vertragsteils verpflichtet sind.
Bedeutung für die Praxis
Entgegen der bisher verbreiteten Ansicht, es könne mit der Umsetzung des o.g. Urteils des EuGH zunächst abgewartet werden, da der Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung der arbeitgeberseitigen Verpflichtung zur systematischen Zeiterfassung in Zugzwang stehe, könnte infolge des Urteils des ArbG Emden bereits jetzt Handlungsbedarf für Unternehmen bestehen.
Wie ein entsprechendes Zeiterfassungssystem auszusehen hat und welche Voraussetzungen es im Einzelnen erfüllen muss, hat das ArbG Emden jedoch nicht beantwortet; auch sonst fehlen hierzu entsprechende Vorgaben. Es bleibt abzuwarten, wie Rechtsprechung und Gesetzgebung die Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems in Zukunft konkretisieren werden. Auch bis dahin dürfte es für Unternehmen dennoch von Vorteil sein, die täglichen Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter so konkret wie unternehmensintern möglich zu erfassen, um das Risiko, in einem Vergütungsprozess der sekundären Darlegungs- und Beweislast nicht nachkommen zu können, zu minimieren.