25.02.2025

Rechtsboard

Es lebe die Tarifautonomie!

Tarifautonomie ist unverzichtbar für die soziale Marktwirtschaft und – trotz vereinzelter Exzesse – Garant sozialen Friedens. In den letzten Jahren sind die Relevanz der Verbände und in ihrem Gefolge die Bedeutung von Tarifverträgen merklich gesunken. Die Politik versucht seit einiger Zeit, diesem Trend entgegenzuwirken, allerdings mit Maßnahmen, die die Autonomie der Sozialpartner beschädigen und teilweise europa- und verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen.

Nachhaltigkeitsbericht: Die Herausforderung erfolgreich meistern

Dr. Hans-Peter Löw
ist Senior Counsel bei DLA Piper in Frankfurt/M.

Der Koalitionsvertrag der verflossenen Ampel „Mehr Fortschritt wagen“ (sic!) bekannte sich dann auch zu dem Ziel, „die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung [zu] stärken, damit faire Löhne in Deutschland bezahlt werden“. Passiert ist wenig bis nichts. Das Bundestariftreuegesetz ist – zum Glück! – in der Versenkung verschwunden und wird wahrscheinlich nicht so schnell wieder hervorgeholt. Etliche arbeitsrechtliche Tagungen in den letzten 18 Monaten haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Tarifautonomie und Tarifbindung gestärkt werden kann. Das Erfolgsrezept wurde noch nicht gefunden. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht nachgeholfen und die Tarifautonomie wieder vom Kopf auf die Füße gestellt.

Bundesverfassungsgericht stärkt Tarifautonomie

Mit seinem am 19.02.2025 veröffentlichten Beschluss vom 11.12.2024 hat das oberste deutsche Gericht zwei Urteile des 10. Senats des Bundesarbeitsgerichts aus den Jahren 2020 und 2023 wegen Verstoßes gegen die Tarifautonomie aufgehoben. Die Begründung hat es in sich. Worum ging es?

Der einschlägige Tarifvertrag sah Zuschläge für Nachtarbeit vor, und zwar 25% für Nachtschichten und 50% für unregelmäßige Nachtarbeit. In dieser unterschiedlichen Behandlung von regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit sah das Bundesarbeitsgericht einen Gleichheitsverstoß. Als Rechtsfolge ordnete das Gericht eine Korrektur nach oben an, das heißt, alle Arbeitnehmer in Nachtarbeit erhielten 50% Zuschläge. Das Besondere daran war, dass bei dem Arbeitgeber die unregelmäßige Nachtarbeit die absolute Ausnahme war. Weit mehr als 90% der gesamten Nachtarbeit entfiel auf die Schichtarbeit, die nach dem Tarifvertrag mit 25% bezuschlagt werden sollte. Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts sollten dann alle Nachtarbeitenden 50% Zuschläge erhalten. Dagegen richteten sich die Verfassungsbeschwerden, und zwar mit Erfolg.

Art. 3 GG gilt auch für Tarifpartner

Zum Verständnis der rechtlichen Problematik ist zunächst zu erörtern, ob überhaupt und wenn ja, in welchem Umfang Tarifverträge an Art. 3 GG zu messen sind. Dazu war das BAG der Auffassung, Tarifnormen seien im Ausgangspunkt uneingeschränkt am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen. Gewerkschaftsmitglieder seien der tarifvertraglichen Normsetzung in zumindest ähnlicher Weise unterworfen wie Bürger der Rechtsetzung durch den Staat. Eine steile These!

Bis hierhin geht das Bundesverfassungsgericht allerdings noch mit. Zu den Grenzen der Tarifautonomie gehöre die grundsätzliche Bindung der Tarifvertragsparteien an Art. 3 Abs. 1 GG bei der Vereinbarung von Tarifnormen. Denn die rechtsverbindliche Wirkung von Tarifnormen gefährde die individuelle Freiheit der Tarifgebundenen, es bestehe für sie eine „strukturelle Gefährdungslage“.

Dann stellt sich als Nächstes die Frage, wodurch eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann. Dabei kommt es entscheidend auf den Prüfungsmaßstab an. Im Ausgangspunkt zutreffend hatte schon das BAG festgestellt, dass den Tarifvertragsparteien ein weiter Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielraum sowie eine Einschätzungsprärogative zukommen. Ein Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht sei erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt hätten, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen. Auf abstrakt denkbare Kriterien komme es dabei nicht an, sondern auf solche, die den Tarifnormen im Wege der Auslegung zu entnehmen seien. Der Zweck müsse sich im Tarifvertrag „niedergeschlagen“ haben.

Weiter Ermessenspielraum der Tarifpartner

Hier hat das Bundesverfassungsgericht deutlich andere Akzente gesetzt: Die Reichweite des Spielraums der Tarifpartner sei abhängig von Regelungsgegenstand und Komplexität der Materie, den betroffenen Grundrechten sowie der Art und dem Gewicht der Auswirkungen für die Tarifgebundenen. Und dann kommen zwei wesentliche Gesichtspunkte zur Ausweitung und Begrenzung des Spielraums. Dieser ist umso weiter, je mehr die geregelten Sachverhalte im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und umso enger, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Minderheiten betroffen sind und diese oder spezifische Gruppeninteressen systematisch vernachlässigt wurden.

Bei Tarifnormen, deren Gehalte im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und bei denen spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind, ist die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG angesichts der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Spielräume der Tarifvertragsparteien auf eine Willkürkontrolle beschränkt. So lag der Fall hier. Die Nachtzuschläge fallen in den Kernbereich der Aufgaben der Tarifpartner. Und Willkür ist hier nicht zu erkennen. Und auch der Anforderung des BAG nach dem „Anklingen“ der Gründe im Tarifvertrag erteilt das BVerfG eine Absage. Bei der Prüfung, ob differenzierende Tarifnormen den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes standhalten, seien alle objektiven Gründe heranzuziehen. Es bestehe kein Anlass, von den partiell grundrechtsberechtigten Tarifvertragsparteien, deren Aushandlungsprozess in besonderer Weise durch ein gegenseitiges Nachgeben in komplexen Regelungszusammenhängen geprägt sei, mehr zu verlangen als vom staatlichen Gesetzgeber. Das überzeugt!

Korrektur nach oben grundsätzlich unzulässig

In einem weiteren entscheidenden Punkt rügt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung des BAG. Es geht um die Rechtsfolgen für den Fall, dass im Einzelfall eine Ungleichbehandlung festgestellt wird. Das BAG hatte dazu in mehreren Entscheidungen die Auffassung vertreten, eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung bei tariflichen Nachtarbeitszuschlägen könne nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden, und das für die Vergangenheit und für die Zukunft. Wenn die Regelung über 25% Zuschläge für Nachtschichtarbeiter unwirksam sei, dann bleibe die Regelung zum 50%-Zuschlag das einzig gültige Bezugssystem. Und diese Regel wandte das BAG auch in solchen Fällen an, in denen mehr als 90% aller Arbeitnehmer Nachtschichtarbeit leistete, für die 25%-Zuschläge tariflich vorgesehen waren, und die unregelmäßige Nachtarbeit mit 50%-Zuschlägen nur in absoluten Ausnahmefällen geleistet wurde.

Die Anpassung nach oben verletzt die betroffenen Arbeitgeber in ihren Grundrechten aus Art. 9 Abs. 3 GG. Bei der Bestimmung der Rechtsfolgen gleichheitswidriger Tarifnormen müssten die Koalitionsfreiheit und der Spielraum der Koalitionspartner in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beachtet werden. Gebe es verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung der Ungleichbehandlung, hätten die Tarifpartner grundsätzlich eine gegenüber den Gerichten vorrangige „primäre Korrekturkompetenz“. Die Rechtsfolgenbestimmung sei im Ausgangspunkt den Tarifpartnern als ursprünglichen Normgebern zu überlassen, sie müssten eine „Chance zur tarifvertraglichen Korrektur“ erhalten.

Die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden wurden von den Professoren Clemens Höpfner (Köln) und Matthias Jacobs (BLS Hamburg) geführt. Von Letzterem habe ich den Titel dieses Beitrags übernommen. Es war sein erstes Fazit zu der Entscheidung am Tag nach ihrer Veröffentlichung auf dem Hessischen Arbeitsrechtstag in Frankfurt.

Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitbeschäftigte weiter im Streit

Für Nachtarbeitszuschläge ist damit die Sache klar: Karlsruhe locuta – causa finita. Die Entscheidung wird aber weit darüber hinausgehende Auswirkungen haben, weil sie die richterliche Kontrolldichte zugunsten der Tarifautonomie zurückdrängt. Mit großer Spannung dürfen wir die Entwicklung bei den Mehrarbeitszuschlägen für Teilzeitbeschäftigte erwarten. Hier hatte das BAG erst im Dezember 2024 entschieden, dass eine tarifvertragliche Regelung, die Mehrarbeitszuschläge erst bei Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten gewährt, Teilzeitbeschäftigte unangemessen benachteiligt. Das Ergebnis hatte sich Erfurt vorab vom EuGH genehmigen lassen, der in seinem Votum die Tarifautonomie überhaupt nicht erwähnte. Es bleibt abzuwarten, wie der sich abzeichnende Konflikt zwischen Karlsruhe und Luxemburg aufgelöst werden wird. Wird man bei der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten über die mittelbare Geschlechterdiskriminierung noch einen Vorrang des EuGH erwarten müssen, ist bei der „Anpassung nach oben“ das Ergebnis offen. Es streiten der Vorrang der Tarifautonomie mit dem effet utile.

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