Ausgangslage und Urteilsfall
Im Streitfall war der Kläger zu 50% an der K-GmbH beteiligt, für die er auch als Geschäftsführer tätig war. Die verbleibenden 50% der Anteile an der K-GmbH hielt die T-GmbH, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer ebenfalls der Kläger war.
Laut dem Gesellschaftsvertrag der K-GmbH hatten die Gesellschafter während eines laufenden Geschäftsjahres per Gesellschafterbeschluss mit einfacher Mehrheit über die Gewährung und die Entnahme von Vorabgewinnausschüttungen zu entscheiden. Das Recht eines Gesellschafters einen Beschluss anfechten zu dürfen, war verwirkt, wenn es sich um unverzichtbare Rechte handelte, der Gesellschafter in der jeweiligen Gesellschafterversammlung anwesend bzw. rechtsgültig vertreten war und dem Beschluss nicht ausdrücklich widersprochen hatte sowie nicht innerhalb von zwei Monaten Klage erhob. Allerdings enthielt der Gesellschaftsvertrag – entgegen der gängigen Empfehlung in der steuerlichen Praxis – keine Regelung zur Gewinnverteilung. Es wurde weder vereinbart, dass Entnahmen, Vorschüsse sowie der Jahresgewinn stets abweichend von den Beteiligungsverhältnissen zu verteilen waren noch enthielt der Gesellschaftsvertrag eine sogenannte Öffnungsklausel.
In der Gesellschafterversammlung der K-GmbH wurden jeweils einstimmig Vorabgewinn-ausschüttungen beschlossen, welche in den Jahren 2012 bis 2015 nur an die T-GmbH (inkongruent) verteilt und ausgezahlt wurden. Weder gab der Kläger Einkünfte aus Ausschüttungen der K-GmbH in seinen Einkommensteuererklärungen an noch wurden Gewinnanteile der K-GmbH gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG durch Einkommensteuerbescheid festgesetzt. In einer Außenprüfung bei der K-GmbH vertrat der Betriebsprüfer die Auffassung, dass die Vorabgewinnausschüttungen auf zivilrechtlich unwirksamen Ausschüttungsbeschlüssen beruhen und demnach die Ausschüttungen dem Kläger zur Hälfte als Gewinnanteile zuzurechnen seien. Falls die Beschlüsse hingegen zivilrechtlich wirksam seien, qualifizieren die inkongruenten Vorabgewinnausschüttungen als Gestaltungsmissbrauch gem. § 42 AO. Daraufhin wurden vom Finanzamt geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2012 bis 2015 erlassen, in denen die Gewinnanteile zur Hälfte dem Kläger als verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) zugerechnet und der Besteuerung unterworfen wurden.
Gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide richtete sich das folgende Klageverfahren. Das FG Münster gab der Klage grundsätzlich mit der Begründung statt, dass inkongruente Gewinnausschüttungen basierend auf punktuell satzungsdurchbrechenden Beschlüssen zivilrechtlich wirksam und damit steuerlich maßgebend sein könnten, ohne dass es einer entsprechenden Regelung in der Satzung bzw. einer Öffnungsklausel bedürfe. Gegen das FG-Urteil legte das Finanzamt Revision ein. Die Vorabgewinnausschüttungsbeschlüsse seien entweder nichtige satzungsdurchbrechende Beschlüsse mit Dauerwirkung und führten somit zu Einkünften aus vGA oder seien bei zivilrechtlicher Wirksamkeit als Gestaltungsmissbrauch gem. § 42 AO zu qualifizieren.
Entscheidung des BFH
Der BFH stimmte der Vorinstanz zu, sodass dem Kläger weder Einkünfte aus offenen noch verdeckten Gewinnausschüttungen zuzurechnen seien. Eine hälftige Zurechnung basierend auf § 42 AO komme ebenfalls nicht in Betracht. Dieses Ergebnis begründete der BFH damit, dass die inkongruenten Gewinnausschüttungsbeschlüsse zivilrechtlich wirksam – d.h. nicht nichtig sind oder nicht aufgrund einer Anfechtung für nichtig erklärt werden können – und somit auch steuerlich anzuerkennen seien. Die in den Streitjahren gefassten Beschlüsse widersprechen zwar der Satzung der K-GmbH, sind allerdings als punktuell satzungsdurchbrechende Ausschüttungsbeschlüsse mangels Anfechtbarkeit zivilrechtlich wirksam und somit steuerlich anzuerkennen.
Punktuell satzungsdurchbrechende einstimmig gefasste und nicht anfechtbare Beschlüsse sind zivilrechtlich wirksam
Gewinne seien grundsätzlich gem. § 29 Abs. 3 Satz 1 GmbHG nach dem Verhältnis der Geschäftsanteile zu verteilen, wenn die Satzung keine gesonderte Regelung zur Gewinnverteilung und keine Öffnungsklausel i.S.d. § 29 Abs. 3 Satz 2 GmbHG enthalte. Falls ein Gesellschafterbeschluss von der gesetzlichen Verteilung abweiche, liege ein satzungsdurchbrechender Gewinnausschüttungsbeschluss vor. Bei satzungsdurchbrechenden Beschlüsse seien grundsätzlich Beschlüsse mit dauerhafter von solchen mit punktueller Wirkung zu unterscheiden. Während satzungsdurchbrechende Beschlüsse mit Dauerwirkung nichtig seien, wenn nicht alle materiellen und formellen Voraussetzungen (insbesondere notarielle Beurkundung und Handelsregister-Eintragung) eingehalten werden, seien punktuell satzungsdurchbrechende Beschlüsse nicht nichtig, aber bei der GmbH grundsätzlich anfechtbar. Ob ein satzungsdurchbrechender Beschluss punktuelle Wirkung oder Dauerwirkung entfalte, sei im Einzelfall auf Basis der zivilgerichtlichen Rechtsprechung zu beurteilen. Im vorliegenden Sachverhalt habe sich die Beschlussfassung auf die konkrete Ausschüttung bezogen und entfalte daher keine Dauerwirkung.
Der BFH führte weiter aus, dass unter Verweis auf die konkrete Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags auch der Schutz des Rechtsverkehrs (insbesondere zum Schutz später eintretender Gesellschafter) keine Einordnung als satzungsdurchbrechender Beschluss mit Dauerwirkung erfordere. Über die Pflicht zur notariellen Beurkundung und Eintragung ins Handelsregister hat der BFH hingegen nicht entschieden, er hat allein – unabhängig von formellen Anforderungen – auf die Möglichkeit der Anfechtung gem. § 243 Abs. 1 AktG abgestellt. Da im Streitfall sämtliche Gesellschafter der inkongruenten Gewinnverteilung zugestimmt haben, sei eine Anfechtung nicht möglich und die Beschlüsse seien zivilrechtlich wirksam und bindend.
Keine Zurechnung auf Basis einer Fremdüblichkeitsprüfung
Laut BFH seien dem Kläger auch keine Einkünfte auf Basis einer vom BMF geforderten Fremdvergleichsprüfung zuzurechnen. Begründet wird diese Einordnung damit, dass § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG tatbestandlich allein den Bezug von Gewinnanteilen erfordere, hingegen ausdrücklich keinen Vorbehalt für eine Fremdvergleichsprüfung enthalte. Im Ergebnis seien dem Kläger weder basierend auf einer offenen noch auf einer verdeckten Gewinnausschüttung Einkünfte aus Kapitalvermögen gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zuzurechnen.
Kein Gestaltungsmissbrauch gem. § 42 AO
Darüber hinaus hat der BFH entschieden, dass die inkongruenten Vorabgewinnausschüttungen an die T-GmbH keinen Gestaltungsmissbrauch i.S.d. § 42 AO darstellen und somit nicht zu einer hälftigen Zurechnung der Ausschüttungen beim Kläger führen. Ein Gestaltungsmissbrauch liegt vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Der Steuerpflichtige kann sich allerdings von der Missbrauchsvermutung exkulpieren, wenn er für die gewählte Gestaltung beachtliche außersteuerliche Gründe nachweist. Laut BFH seien für die Prüfung, ob ein Gestaltungsmissbrauch im vorliegenden Sachverhalt vorliegt, die gleichen Kriterien heranzuziehen wie für den Fall einer inkongruenten zivilrechtlich wirksamem Ausschüttung basierend auf einer abweichenden Gewinnverteilungsregel oder Öffnungsklausel.
Der BFH stelle klar, dass nahezu jede verdeckte Gewinnausschüttung eine inkongruente Ausschüttung an den empfangenen Gesellschafter darstelle und der Besteuerung zugrunde gelegt werde. Zivilrechtlich wirksame offene inkongruente Gewinnausschüttungen seien daher steuerlich nicht abweichend zu behandeln und qualifizieren grundsätzlich als „missbrauchsfrei“. Zudem sei bei der Prüfung des Vorliegens eines steuerlichen Vorteils nur auf den Steueranspruch aus dem konkreten Steuerschuldverhältnis abzustellen (hier die einkommensteuerlichen Steueransprüche). In diesem Sinne stimmte der BFH der Würdigung des FG Münster zu, wonach im Streitfall kein steuerlicher Vorteil vorliege, da bei einer späteren Ausschüttung an den Kläger dieselben Besteuerungsregeln greifen und somit eine Besteuerung nur aufgeschoben werde. Ferner seien schenkungssteuerliche Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu berücksichtigen, da allein die konkreten Einkommensteueransprüche maßgeblich seien.
Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung des BFH ist aus Sicht der Praxis grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings ist das Verdikt nicht als allgemeiner Freibrief für einstimmig gefasste satzungsdurchbrechende inkongruente Gewinnausschüttungen einzuordnen. Aus der Argumentation des BFH wird deutlich, dass es einer Einzelfallprüfung unter Betrachtung der jeweiligen Satzung bedarf, ob ein Ausschüttungsbeschluss nichtig oder nur anfechtbar ist. Zudem ist ein Gestaltungsmissbrauch i.S.d. § 42 AO im Zusammenhang mit zivilrechtlich wirksamen inkongruenten Gewinnausschüttungen nicht generell auszuschließen. Eine inkongruente Gewinnausschüttung, welche mit einer komplexen Gestaltung verbunden ist, kann demnach weiterhin einen Gestaltungsmissbrauch i.S.d. § 42 AO darstellen.
Fraglich ist, wie die Finanzverwaltung mit dem jüngsten BFH-Urteil umgehen wird. Daher ist vorerst auch weiterhin zu empfehlen, in der Praxis wie bisher (bei geplanten inkongruenten Gewinnausschüttungen) eine von den Beteiligungsverhältnissen abweichende Gewinnverteilung oder eine Öffnungsklausel in der Satzung festzuschreiben. Weiterhin offen bleibt leider auch die Frage, wie inkongruente Erlösvereinbarungen im Rahmen eines Verkaufs (d.h. eine inkongruente Verteilung von Veräußerungserlösen) steuerlich zu beurteilen sind. Bisher hat sich die Finanzverwaltung zu diesem Thema nicht geäußert. Falls die inkongruente Erlösvereinbarung zivilrechtlich wirksam ist und nicht als Gestaltungsmissbrauch gem. § 42 AO qualifiziert, sollte diese aber entsprechend den Grundsätzen des BFH-Urteils zu inkongruenten Gewinnausschüttungen auch steuerlich anzuerkennen sein.