Sachverhalt
Die Klägerin erwarb durch Schenkung ihres Vaters sämtliche Anteile an einer GmbH, die als Vertriebs- und Produktionsgesellschaft im pharmazeutischen Bereich tätig ist. Mit Bescheid vom 19.04.2018 stellte das Finanzamt den Wert des Anteils an der Kapitalgesellschaft auf rd. 556.000 €, die Summe der Finanzmittel auf rd. 2.500.000 € und die Höhe der Schulden auf rd. 3.100.000 € fest. Übriges (junges) Verwaltungsvermögen i.S.d. des Katalogs nach § 13b Abs. 4 ErbStG existierte zum Steuerentstehungszeitpunkt nicht. Bei Anwendung des Gesetzeswortlauts ergab sich somit eine Verwaltungsvermögensquote i.H.v. 473%, die die Höchstgrenze von 90% bei weitem überstieg. Aus diesem Grund versagte das Finanzamt die von der Klägerin angestrebte Begünstigung für Betriebsvermögen (Regelverschonung gem. § 13a ErbStG). Gegen diesen ablehnenden Bescheid richtete sich die Klage vor dem FG. Die Klägerin argumentierte, dass für Zwecke des 90%-Tests ausschließlich das Bruttoverwaltungsvermögen (ohne Abschläge und Schuldenverrechnung) einzubeziehen sei, was verfassungsrechtlich nicht haltbar wäre. Die Bruttobetrachtung der Finanzmittel führe zu willkürlichen Ergebnissen, da beispielsweise Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, die im Streitfall den überwiegenden Teil der Finanzmittel darstellten, lediglich von der Zahlungsmoral der Schuldner abhängen. Die Höhe des Finanzmittelbestandes stelle somit lediglich eine zufällige Momentaufnahme dar. Im Übrigen sei der Missbrauchsvermeidungscharakter der Norm verfehlt, da die Vorschrift im Ergebnis eine Vielzahl von Betriebsvermögensübertragungen ausschließt, denen keine missbräuchliche Gestaltung zugrunde liegt.
Entscheidungsgründe des FG
1. Einschränkende Wortlautauslegung im Rahmen der teleologischen Reduktion
Das FG folgte der Argumentation der Klägerin und urteilte, dass die Vorschrift des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG im Rahmen der Auslegung ihrem Normzweck entsprechend telelogisch zu reduzieren sei. Ansonsten würde die Vorschrift zu sinnwidrigen und mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtsfolgen führen. Dies gelte insbesondere bei Handels- oder Dienstleistungsunternehmen, da diese naturgemäß einen vergleichsweise hohen Bestand an Forderungen aus Lieferung und Leistung – und somit an Finanzmitteln – haben, die für Zwecke des 90%-Tests nach dem Gesetzeswortlaut ohne Abschläge und Schuldenverrechnung einzubeziehen sind.
2. Verfassungskonformität bedingt zwingenden Hauptzwecktest
Der 90%-Test könne daher dann nicht zur Anwendung kommen, wenn die betroffene Kapitalgesellschaft ihrem Hauptzweck nach einer Tätigkeit i.S.d. § 13 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder § 18 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG dient. Nach ihrem Sinn und Zweck handele es sich bei der Vorschrift des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG um eine spezielle Missbrauchsvermeidungsvorschrift, wonach Anteile, die nahezu ausschließlich aus Verwaltungsvermögen bestehen, von der Verschonung ausgenommen sein sollen. Gehe die Kapitalgesellschaft aber ihrem Hauptzweck nach einer gewerblichen Tätigkeit nach, bestehe keine Missbrauchsgefahr. Für diese Fälle sei eine Versagung der erbschaft- und schenkungsteuerlichen Begünstigung nicht ersichtlich.
Bedeutung für die Praxis
Bei wortgetreuer Auslegung des § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG kann der 90%-Test in seiner aktuellen Fassung zu dem Ergebnis führen, dass für eigentlich gewerblich tätige Gesellschaften überhaupt keine erbschaft- und schenkungsteuerliche Begünstigungen in Anspruch genommen werden können. Da dies zu erheblichen Steuerbelastungen führen kann, ist dieses Urteil von höchster Bedeutung für die Nachfolgepraxis.
Im konkreten Streitfall ging es um eine schenkweise Übertragung von Kapitalgesellschaftsanteilen. Fraglich ist, ob der Hauptzwecktest auch für die Übertragung von Mitunternehmeranteilen Anwendung finden soll. Da in dem Urteil des FG Münster kein Verweis auf § 15 Abs. 3 EStG enthalten ist, könnte dies dafür sprechen, dass der Hauptzwecktest nach Auffassung des FG Münster nur bestanden wird, wenn die Mitunternehmerschaft originär gewerblich tätig ist. In diesem Fall würde eine bloße gewerbliche Infizierung oder Prägung nicht ausreichen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie der Hauptzwecktest anzuwenden ist, wenn nicht nur eine unmittelbare Beteiligung übertragen wird, sondern ein mehrstufiger Verbund. Für diesen Fall wäre zu klären, ob der Hauptzwecktest isoliert auf Ebene jeder Beteiligung, nur auf Ebene der Verbundobergesellschaft oder konsolidiert für den gesamten Verbund vorzunehmen und zu bestehen ist. Zu diesen Fragen, sind soweit ersichtlich, derzeit allerdings noch keine Verfahren anhängig.
Die vom Senat zugelassene Revision ist bereits beim BFH anhängig (Az.: II R 49/21). Die Entscheidung wird von großer Bedeutung für die steuerliche Nachfolgepraxis sein und ist daher mit Spannung abzuwarten. Nicht ausgeschlossen ist dabei auch eine Vorlage beim BVerfG. In jedem Fall sollten betroffene Steuerbescheide mit Verweis auf das anhängige Verfahren offengehalten werden (vgl. § 363 Abs. 1 AO).