Hintergrund
Gegenstand der Verfassungsbeschwerden war mittelbar § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. § 233a AO regelt die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen bezüglich der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer. Demnach sind Steuernachforderungen und Steuererstattungen zwischen Steuerentstehung – nach Ablauf einer Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten – bis zur Steuerfestsetzung zu verzinsen (sogenannte Vollverzinsung). Die Karenzzeit beginnt grundsätzlich nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Die Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO 0,5 % für jeden Monat. Der Verzinsung zugrunde gelegt wird die um gesetzlich vorgegebene Abzugsbeträge verminderte endgültig festgesetzte Steuer (der Unterschiedsbetrag). Im Hinblick auf das Verfahren vor dem BVerfG hatte das BMF bereits am 02.05. 2019 angeordnet, sämtliche Zinsfestsetzungen mit Vorläufigkeitsvermerk zu versehen (Az. IV A 3 – S 0338/18/10002).
Zweck der Zinsen sollte die Abbildung eines fiktiven Zinsvorteils sein, den diejenigen Steuerpflichtigen erlangen würden, deren Steuer erst später festgesetzt wird. Indes hat sich die Verzinsung mit einem Zinssatz von jährlich 6 % in Zeiten des Niedrigzinsumfeldes stark von dem in der Realität erzielbaren Zinsvorteil entfernt.
An diesem Punkt setzt die Entscheidung des BVerfG an.
Entscheidung des BVerfG
Das BVerfG entschied, dass die mit der derzeitigen Regelung bewirkte Ungleichbehandlung zwischen zinszahlungspflichtigen und nicht zinszahlungspflichtigen Steuerschuldnern für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 mit diesem Zinssatz nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist. Dabei erstreckte das Gericht diese Unvereinbarkeitserklärung auf alle in § 233a Abs. 1 Satz 1 AO genannten Steuerarten, obwohl die Beschwerdeführer selbst nur von der Verzinsung von Gewerbesteuernachforderungen betroffen waren. Nicht erfasst von der Entscheidung sind hingegen Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO.
Verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung
Das BVerfG führt zunächst aus, dass die Regelung der Karenzzeit zur Folge hat, dass von der Verzinsung nur diejenigen Steuerpflichtigen betroffen sind, deren erstmalige Steuerfestsetzung oder Änderung der Steuerfestsetzung nach dem Ablauf der Karenzzeit liegt. Während Steuerpflichtige, deren Steuer innerhalb der Karenzzeit festgesetzt wird, keine Zinsen zahlen müssen, sind Steuerpflichtige, deren Steuer nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, zinszahlungspflichtig. Diese unterschiedliche Behandlung erachtet das BVerfG als verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung.
Die Verzinsung als steuerliche Nebenleistung erfordert dabei laut BVerfG eine besondere Rechtfertigung, die über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgeht und eine deutliche Unterscheidung zur Steuer erlaubt. Dabei betont das BVerfG, dass der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung und die damit mögliche Überschreitung der Karenzzeit weitestgehend nicht in der Hand des Steuerpflichtigen liegt.
Der Steuerpflichtige kann zwar auf eine frühestmögliche Steuerfestsetzung hinwirken oder unter Umständen durch freiwillige Zahlungen auf die Verzinsung einwirken. Gleichwohl wird der Steuerfestsetzungszeitpunkt und damit der Zeitraum des Zinslaufes letztendlich nur durch die Finanzverwaltung oder – hinsichtlich der Gewerbesteuer – durch die hebeberechtigte Gemeinde bestimmt. Das BVerfG führt hierfür insbesondere den Zeitpunkt der Außenprüfung und den Zeitpunkt des anschließenden Erlasses eines Änderungsbescheides an. Aufgrund der Verfahrensweise sind diese typischerweise erst nach Ablauf der Karenzzeit von 15 Monaten abgeschlossen.
Typisierung durch Verzinsung grundsätzlich verfassungsrechtlich möglich
Das BVerfG gesteht dem Gesetzgeber grundsätzlich zu, aus Gründen der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung hinsichtlich des Zinsgegenstands und des Zinssatzes eine Typisierung vorzunehmen.
Insoweit dient § 233a AO einem legitimen Zweck und ist geeignet, diesen Gesetzeszweck zu fördern. Die Vollverzinsung und ein starrer Zinssatz sind nicht per se verfassungsrechtlich zu beanstanden. Die Geeignetheit ergibt sich daraus, dass die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht und solche Regelungen sich insofern grundsätzlich im Rahmen des diesbezüglichen gesetzgeberischen Spielraums bewegen. Hinsichtlich der Erforderlichkeit des Mittels der Vollverzinsung mit einem solchen Zinssatz unterscheidet das BVerfG jedoch zwischen der Zeit bis einschließlich 2013 und der Zeit ab 2014.
Verzinsung mit 6 % p.a. verfassungsgemäß bis einschließlich 2013 und verfassungswidrig ab 2014
Für den Zeitraum bis einschließlich 2013 hat das BVerfG die Erforderlichkeit einer an einen Zinssatz von monatlich 0,5 % anknüpfenden Vollverzinsung noch bejaht. Das BVerfG verneint jedoch die Erforderlichkeit, soweit die Verzinsung mit einem Zinssatz von 0,5 % für jeden Monat ab dem Jahr 2014 erfolgt. Diese Verzinsung geht über eine zulässige Typisierung hinaus. Denn der monatliche Zinssatz i.H.v. 0,5 % erweist sich laut BVerfG spätestens ab 2014 angesichts veränderter tatsächlicher Umstände als „evident realitätsfern“. Dies begründet das Gericht insbesondere mit einem sich seit Beginn der Finanzkrise 2008 entwickelnden „strukturellen Niedrigzinsniveau“. Dadurch hat die Vollverzinsung spätestens ab 2014 nicht mehr dem fiktiven Zinsvorteil einer späteren Steuerfestsetzung entsprochen und überschießend gewirkt. Die mit der Vollverzinsung erfolgende Typisierung bewegte sich mithin mit diesem Zinssatz für alle Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 nicht mehr im verfassungsrechtlichen Rahmen. Das BVerfG sieht in einem niedrigeren Zinssatz ein mindestens ebenso geeignetes Mittel zur Erreichung des Zwecks der Vollverzinsung.
Wirkung der Entscheidung des BVerfG
Das BVerfG hat den § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt.
Es hat jedoch angeordnet, dass für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 die bisherigen Regelungen anwendbar bleiben und fortgelten. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, für diesen Zeitraum eine verfassungsgemäße Regelung rückwirkend zu treffen. Das BVerfG begründet diese Fortgeltungsanordnung mit dem Bedürfnis für eine verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung, da die Verzinsung laut BVerfG für den Staatshaushalt von nicht unerheblicher Bedeutung ist.
Für Verzinsungszeiträume ab 2019 ist § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO jedoch unanwendbar. Das bedeutet, die Gerichte und die Verwaltung dürfen die Regelungen im Umfang ihrer Verfassungswidrigkeit nicht mehr anwenden und haben laufende Verfahren auszusetzen. Betroffen von der Anwendungssperre sind jedoch nur noch nicht bestandskräftig bzw. rechtskräftig abgeschlossene oder jedenfalls bislang nicht vollstreckte Zinsfestsetzungen.
Das BVerfG hat dem Gesetzgeber aufgegeben, den Verfassungsverstoß rückwirkend für Verzinsungszeiträume ab 2019 durch Neuregelung bis spätestens bis zum 31.07.2022 zu beseitigen.
Praxishinweise und Ausblick
Gegen nicht bestandskräftige Steuerbescheide über die Verzinsung für Zeiträume ab 2019 und ohne entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk sollte mit Einspruch bzw. Widerspruch vorgegangen werden, um von der zu erwartenden günstigeren zukünftigen Regelung zu profitieren.
Eine erste Reaktion aus der Finanzverwaltung auf die Entscheidung des BVerfG gibt es bereits: Der niedersächsische Finanzminister hat mitgeteilt, dass die Entscheidung in Abstimmung mit dem Bund und den anderen Ländern ausgewertet würde und die Erfüllung berechtigter Rückzahlungsansprüche vorzubereiten sein werde (siehe Pressemitteilung vom 18.08.2021).
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich das BVerfG gegen eine Erstreckung der verfassungsrechtlichen Unvereinbarkeitserklärung auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen entschieden hat. So verzinst sich z.B. die Erbschaft- und Schenkungsteuer (nur) im Hinterziehungsfalle. Nach Ansicht der Finanzverwaltung (vgl. 1.3. AEAO zu § 235) werden Hinterziehungszinsen aber auch bei wirksam erstatteter Selbstanzeige (§ 371 AO) erhoben.
Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass in Zukunft weitere steuerrechtliche Verzinsungsregelungen im Rahmen (verfassungs-)gerichtlicher Überprüfung in Frage gestellt werden. So bleibt beispielsweise abzuwarten, ob Ähnliches hinsichtlich der steuerlichen Abzinsung bei der Bewertung von Pensionsverpflichtungen (§ 6a EStG) folgen könnte. Nicht zuletzt angesichts der Bedeutung der betrieblichen Altersvorsorge kann auch der dabei geltende Zinssatz kritisch gesehen werden (siehe das beim BVerfG anhängige Verfahren unter dem Az. 2 BvL 22/17). Weitere Zinsregeln sind bereits Gegenstand finanzgerichtlicher Kontrolle (siehe das beim BFH anhängige Verfahren unter dem Az. IV R 19/19). Am Ende sollte der Gesetzgeber die Chance ergreifen, das Thema Verzinsung im Steuerrecht ganzheitlich neu zu regeln, wie dies bereits erste Stimmen fordern.