Schleppende Aufarbeitung der „Cum-Ex“-Affäre durch Finanzverwaltung und Justiz
Die mit „Cum-Ex“ bezeichneten Fälle einer mehrfachen Erstattung nur einmal an den Fiskus abgeführter Kapitalertragsteuer beim Handel mit Aktien um den Dividendenstichtag herum fallen vor allem in die Zeit der 2000er Jahre. Das dahinterstehende Problem mehrfach ausgestellter Kapitalertragsteuer-Bescheinigungen wurde bereits durch das Jahressteuergesetz 2007 ohne Erfolg aufgegriffen. Spätestens seit Anfang 2009 waren Gesetzgeber und Finanzverwaltung die umstrittenen Gestaltungen mit „Cum-Ex“-Leerverkäufen bekannt und es wurde versucht, diese Praxis durch Verwaltungsanweisungen zu unterbinden. Strafrechtliche Ermittlungen wurden damals aber offenbar noch nicht angestellt. Erst durch die Einführung des sog. Zahlstellenprinzips mit Wirkung ab 01.01.2012 (§§ 43 Abs. 1 Nr. 1a, 44 Abs. 1 Satz 4 Nr. 3, 45a EStG) hat der Gesetzgeber die Praxis der „Cum-Ex“-Geschäfte unterbunden. Größere strafrechtliche Ermittlungen gegen Beteiligte von „Cum-Ex“-Geschäften laufen erst seit 2012. Acht Jahre später wurden erstmals Beteiligte eines „Cum-Ex“-Handels strafrechtlich verurteilt (LG Bonn vom 18.03.2020 – 62 KLs – 213 Js 41/19 – 1/19); die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, der BGH wird sich demnächst damit beschäftigen müssen. Obwohl die „Cum-Ex“-Problematik somit bereits seit über einem Jahrzehnt bekannt war und in der breiten Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden ist, läuft die strafrechtliche Aufarbeitung der bislang bekannten Fälle nur schleppend.
Gesetzgeberische „Torschlusspanik“ in Ansehung der Verjährungsfristen
Angesichts der langwierigen Bemühungen der Justiz um die Aufarbeitung der „Cum-Ex“-Fälle wurden seit geraumer Zeit Stimmen laut, die auf die laufenden Verjährungsfristen verwiesen und ein baldiges Ende der strafrechtlichen Verfolgung der „Cum-Ex“-Fälle prophezeiten. Dies hat im Jahr 2020 mehrere überstürzte Reaktionen des Gesetzgebers ausgelöst:
- Mit dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz vom 29.06.2020 hat der Gesetzgeber § 376 Abs. 1 AO mit Wirkung ab 01.07.2020 um einen zweiten Halbsatz ergänzt, demzufolge die Verjährung eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung ab der Eröffnung des strafprozessualen Hauptverfahrens vor dem Landgericht für einen Zeitraum von bis zu fünf (weiteren) Jahren ruht.
- Mit Wirkung ab 01.07.2020 wurde ferner § 376 Abs. 3 AO geschaffen, demzufolge die bei Unterbrechungen der Verjährung durch Ermittlungsmaßnahmen anzuwendende Höchstfrist für die Verjährung besonders schwerer Fälle der Steuerhinterziehung entgegen der strafgesetzlichen Regel (20 Jahre, vgl. § 78c Abs. 3 Satz 2) auf 25 Jahre verlängert wurde. Diese Schlechterstellung von der Steuerhinterziehung beschuldigter Personen gegenüber sonstigen Straftätern wird vom Gesetzgeber damit begründet, dass „die strafrechtliche Aufarbeitung rechtlich komplexer und grenzüberschreitender Steuergestaltungen, die darauf ausgerichtet sind, Steuern in großem Ausmaß zu hinterziehen … sehr aufwendig und langwierig“ ist, weshalb „die Strafverfolgungsbehörden … genügend Zeit zur Ermittlung“ benötigen (BT-Drucks. 19/20058, S. 29).
- Ebenfalls per 01.07.2020 wurde ein neuer § 375a AO geschaffen. Hiernach sollte die strafrechtliche Einziehung (vgl. §§ 73 ff. StGB) rechtswidrig erlangter Vorteile aus der Steuerhinterziehung selbst dann noch möglich sein, wenn der Steueranspruch des Fiskus bereits festsetzungsverjährt und damit erloschen (§ 47 AO) ist. Die Vorschrift wurde vom Gesetzgeber selbst als missglückt erkannt, im Jahressteuergesetz 2020 bereits wieder aufgehoben und durch eine Ergänzung in § 73e Abs. 1 Satz 2 StGB ersetzt (dazu im Einzelnen Feindt/Rettke, DStR 2021 S. 79 ff.).
- Mit dem Jahressteuergesetz 2020 wurde schließlich zum 29.12.2020 die strafrechtliche Verfolgungsfrist für alle besonders schweren Fälle der Steuerhinterziehung von zehn auf 15 Jahre verlängert (§ 376 Abs. 1 Hs. 1 AO n.F.). Diese Frist war erstmalig im Jahr 2008 von ursprünglich fünf auf zehn Jahre verlängert worden.
Strafrechtliche Einordnung der verlängerten Verfolgungsfrist
Die neue 15jährige Verjährungsfrist gilt für alle „besonders schweren Fälle“ der Steuerhinterziehung. Als „besonders schwerer Fall“ wird bereits die Verkürzung von Steuern „in großem Ausmaß“ angesehen (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO). Seit einer Entscheidung des BGH vom Oktober 2015 gilt für das „große Ausmaß“ der verkürzten Steuer eine einheitliche Wertgrenze von 50.000 € (BGH vom 27.10.2015 – 1 StR 373/15, DStR 2016 S. 914). Da diese Wertgrenze für alle Steuerarten gilt, kann das „große Ausmaß“ etwa bei einer unvollständigen Erbschaftsteuererklärung oder einer unterlassenen Anzeige nach dem Grunderwerbsteuergesetz schnell erreicht sein. Hält man sich weiter vor Augen, dass für die Steuerhinterziehung auf subjektiver Seite ein bedingter Tatvorsatz genügt und die Anforderungen der Rechtsprechung an den bedingten Vorsatz gering sind (vgl. nur BGH vom 11.02.2020 − 1 StR 119/19, NStZ 2020 S.487; vgl. auch Ransiek/Hüls, NStZ 2011 S. 678 ff.), wird klar, dass die Neuregelung eine Vielzahl von Steuerpflichtigen betreffen kann.
Bis zum 29.12.2020 kannte das Strafrecht Verjährungsfristen von drei, fünf, zehn, zwanzig und dreißig Jahren (§ 78 Abs. 3 StGB). Neu ist nun eine Frist von 15 Jahren. Über die zum 01.07.2020 eingeführte Vorschrift des § 376 Abs. 3 StGB verlängert sich die Höchstfrist für die Strafverfolgung einer besonders schweren Steuerhinterziehung auf 37,5 Jahre. Da die Verjährung nach dem ebenfalls neuen § 376 Abs. 1 Hs. 2 AO ab Eröffnung des strafprozessualen Hauptverfahrens vor dem Landgericht für fünf (weitere) Jahre ruht, kann sich die absolute Verjährungsfrist auf 42,5 (!) Jahre verlängern.
Folgen für das Besteuerungsverfahren
Die Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung kann erhebliche Auswirkungen im Besteuerungsverfahren haben, von denen drei beispielhaft erläutert werden sollen:
- Allgemein beträgt die Festsetzungsfrist für hinterzogene Steuern zehn Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Diese Frist endet jedoch nicht, solange die Strafverfolgung wegen der Steuerhinterziehung noch möglich ist (§ 171 Abs. 7 AO). Faktisch hat der Gesetzgeber daher mit der Änderung von § 376 Abs. 1 AO auch die Festsetzungsfrist für alle besonders schweren Fälle der Steuerhinterziehung auf 15 Jahre verlängert. Vor dem 01.07.2020 konnte die Festsetzungsfrist bei Anknüpfung an die Höchstfrist für die Strafverfolgung maximal 20 Jahre betragen; seit dem 29.12.2020 sind dies nun 42,5 Jahre. Hinterzogene Steuern sind mit 6% p.a. zu verzinsen, eine vor 42 Jahren hinterzogene Steuer somit mit 252%.
- Nach einer Entscheidung des FG München vom 26.07.2019 (6 K 3189/17, wistra 2020 S. 173, anhängig beim BFH: VIII R 26/19) gilt die steuerliche Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 7 AO auch für den Rechtsnachfolger eines Steuerpflichtigen, wenn er während der noch offenen Festsetzungsfrist des Steuerpflichtigen einen von diesem (ggf. nur mit bedingtem Vorsatz) begangenen Fehler (ggf. selbst nur mit bedingtem Vorsatz) erkennt, aber nicht das Finanzamt informiert (§ 153 AO). Diese „Verknüpfung“ der Festsetzungsfrist des Steuerpflichtigen mit der durch die unterlassene Mitteilung an das Finanzamt beim Rechtsnachfolger ausgelösten strafrechtlichen Verfolgungsfrist kann den Eintritt der Festsetzungsverjährung nach neuem Recht für einen Zeitraum von bis zu 28 Jahren hindern, und zwar ohne dass dafür die strafrechtlichen Höchstfristen, Verjährungsunterbrechungen oder ein Ruhen der Verjährung nach Eröffnung eines Strafprozesses bemüht werden müssten.
- Auswirkungen hat die verlängerte strafrechtliche Verjährungsfrist auch auf die Regeln zur Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung (§§ 371, 398a AO). Eine Selbstanzeige führt nur dann zur Straffreiheit, wenn der Steuerpflichtige dem Finanzamt Angaben zu „allen unverjährten Steuerstrafraten einer Steuerart“ macht (§ 371 Abs. 1 Satz 2 AO). Mit der Änderung von § 376 Abs. 1 AO hat der Gesetzgeber den hierfür relevanten Zeitraum für alle potentiell besonders schweren Fälle der Steuerhinterziehung de facto auf 15 Jahre verlängert. Die Anforderungen an die Abgabe einer strafrechtlich wirksamen Selbstanzeige wurden damit weiter verschärft. Denn mit der Einbeziehung von fünf noch länger zurückliegenden Jahren steigt die Wahrscheinlichkeit eines für die Straffreiheit schädlichen Fehlers in der Nacherklärung. Überdies werden viele Steuerpflichtige bei der Überprüfung ihrer steuerlichen Verhältnisse in einem bis zu fünfzehn Jahre zurückliegenden Veranlagungszeitraum an praktische Grenzen geraten. Mancher Betroffene wird sich daher die Frage stellen, ob die Abgabe einer Selbstanzeige für ihn noch sinnvoll sein kann. Die Fristverlängerung schadet damit dem fiskalischen Interesse an einem möglichst leichten Rückweg in die Steuerehrlichkeit.
Kritik
Das verständliche Interesse des Gesetzgebers an einer umfassenden juristischen Aufarbeitung der „Cum-Ex“-Affäre heiligt nicht jedes Mittel. Es muss die Frage gestellt werden, ob die Verlängerung der strafrechtlichen Verfolgungsfrist von zehn auf 15 Jahre sachgerecht war:
- Der Steuerhinterziehung in ihrem Tatunrecht („Steuerbetrug“) ähnliche Straftaten wie Betrug, Subventionsbetrug sowie Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt verjähren nun selbst in besonders schweren Fällen deutlich schneller als besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung. Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Fiskus seine eigenen Ansprüche strafrechtlich besser schützen will als das Vermögen seiner Staatsbürger, der Steuerpflichtigen. Auch die Ansprüche der staatlichen Sozialkassen sind nun selbst in besonders schweren Fällen (§ 266a Abs. 4 StGB) strafrechtlich schwächer geschützt als der Steuerfiskus.
- Verjährungsfristen haben die Aufgabe, nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums Rechtsfrieden zu schaffen; überdies haben sie eine verfahrensökonomische Funktion. Erfahrungen mit den Finanzbehörden (außerhalb des Steuerstrafrechts) zeigen, dass anspruchsvolle Steuerverfahren nicht selten erst kurz vor Ablauf der Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist abgeschlossen werden. Aus der Verlängerung der strafrechtlichen Verfolgungsfrist für alle besonders schweren Fälle der Steuerhinterziehung ist daher nicht unbedingt eine Beschleunigung der Bearbeitung der „Cum-Ex“-Fälle zu erwarten; es wird den Strafverfolgungsbehörden vielmehr der Druck genommen, in vertretbarer Zeit zu einem Ergebnis zu kommen. Die strafrechtliche Aufarbeitung der „Cum-Ex“-Affäre wird vermutlich weiter in die Zukunft verschleppt.
- Die Verlängerung der Verfolgungsfrist für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung ist kein adäquater Ersatz dafür, dass die Bundesländer es über Jahre hinweg offenbar versäumt haben, die sachlichen und personellen Voraussetzungen für die steuer- und strafrechtliche Aufarbeitung der „Cum-Ex“-Fälle sowie ähnlich komplexer Sachverhalte mit internationalen Bezügen zu schaffen. Nach der Gesetzesbegründung war die frühere Verjährungsfrist von zehn Jahren „nicht ausreichend …, um steuerstrafrechtlich relevante Sachverhalte rechtzeitig aufzudecken und vollumfassend auszuermitteln“ (BT-Drucks. 19/25160, S. 207). Ausweislich der Gesetzesmaterialien geht der Gesetzgeber aufgrund der „zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft und der fortschreitenden Digitalisierung“ allerdings von einer Zunahme solcher Fälle aus. Daher bestehe ein „dringender Bedarf, den Ermittlungsbehörden einen ausreichenden Zeitraum einzuräumen, um die notwendigen Ermittlungen durchführen zu können.“ (BT-Drucks. 19/25160, a.a.O.). Die bislang im Gesetz vorgesehene Verjährungsfrist von zehn Jahren war bereits sehr lang. Sie ist allerdings tatsächlich nicht ausreichend, wenn es den zuständigen Ermittlungsbehörden an technischen Mitteln und Personal mangelt. Diesen Missstand kann auch eine Verlängerung der Frist von zehn auf 15 Jahre nicht beseitigen.
- Die Verlängerung der Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung ist ein Beleg dafür, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung eines rechtsstaatlichen und volkswirtschaftlich wie fiskalisch sinnvollen Steuerrechts seine Schwierigkeiten hat. Der Steuergesetzgeber hat Jahre gebraucht, um die zweifelhafte „Cum-Ex“-Praxis ab 2012 zu unterbinden. Heute, weitere zehn Jahre später, reagiert der Gesetzgeber mit Verschärfungen des Strafrechts. Das geht am Kern des Problems vorbei: Das strafrechtliche Instrumentarium kann historische Versäumnisse der Steuergesetzgebung nicht ausgleichen.